Kommentar: Heiße Fragen - kalte Füße
Derzeit werfen CDU und FDP im Bundeswahlkampf SPD-Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier vor, er trage trotz seiner Beteuerungen, niemals ein Bündnis mit den Linken zimmern zu wollen, die Neigung zum politischen Wortbruch als „Ypsilanti-Gen“ quasi in seiner DNA. Von Michael Eschenauer
Das ist erstaunlich, leiden Christdemokraten und Liberale zumindest in Hessen doch unter dem exakt gleichen Gen-Defekt. Oder wie sonst ist es zu deuten, dass man sich in Wiesbaden anschickt, Versprechen zu brechen, die vor nicht allzu langer Zeit für sakrosankt erklärt wurden?
Noch ist es nicht klar, ob die hessische Landesregierung gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs in Kassel klagt, der jüngst eine Verschärfung des Nachtflugverbots angemahnt hat. Täte Regierungschef Roland Koch dies, würde er gegen sich selbst prozessieren. Denn immerhin war er es, der die enge Verknüpfung von Nachtruhe und Ausbau durchgesetzt hat. Ein derartiger Schritt scheint schizophren, wird aber offensichtlich erwogen.
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Auch die FDP zeigt dieser Tage, was sie von Versprechen hält. Anfang der Woche behauptete plötzlich deren hessischer Spitzenkandidat für die Bundestagswahl, Wolfgang Gerhardt, eine komplette nächtliche Sperrung des Frankfurter Airports sei rechtlich nicht durchsetzbar. Wenig später beschlich dann den FDP-Parteivorsitzenden Jörg-Uwe Hahn die Angst, die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs verletze womöglich wichtige rechtsstaatliche Prinzipien, indem sie den vom Landtag verabschiedeten Landesentwicklungsplan mit dem Nachtflugverbot über die von der Koch-Regierung erteilte Baugenehmigung stelle, die ihrerseits weitreichende Ausnahmen vom Nachtflugverbot zulasse.
Angst vorm Verfassungsbruch? Da wärmt sich jemand die kalten Füße indem er eine heiße juristische Debatte loszutreten versucht. Hahn prägte einst das Wortbild, der Bau der Landebahn und das Nachtflugverbot seien zwei Seiten einer gleichen Medaille. Nun knickt er ein angesichts des Drucks von Fluggesellschaften und Wirtschaft.
Der lärmgeplagte Bewohner des Rhein-Main-Gebiets reibt sich verwundert die Augen, wie schnell es gehen kann, dass Politiker nach jahrelanger Debatte zu jeder nur denkbaren rechtlichen und sonstigen Frage des Ausbaus urplötzlich neue Probleme entdecken und sich anschicken, das Nachtflugverbot, den tragenden Pfeiler ihrer Haltung und der gesamten Mediation beim Flughafenausbau schlechthin, zum unnötigen und rechtlich fragwürdigen Beiwerk herabzustufen.
Liegt das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs vor, bleiben Wiesbaden exakt vier Wochen Zeit zu überlegen, ob man in die Revision zum Bundesverwaltungsgericht in Leipzig geht. Das könnte knapp werden - vor allem, wenn man bedenkt, dass die Richter in Kassel womöglich gar nicht den argumentativen Mörser des Landesentwicklungsplans mit seinem Lärmschutz als Begründung für die Forderung nach mehr Nachtruhe auffahren. In diesem Falle schlösse sich das Schlupfloch der juristischen Grundsatzfragen, die angeblich nur das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe klären kann. Wetten, dass dann die Köpfe in Wiesbaden so richtig qualmen?