Das große Gegengetöse
Offenbach - Eva Reiß erfindet am Samstag ein Wort. Keins, das es in den Duden schaffen wird. Keins, dem Chancen als Wort des Jahres eingeräumt werden müssen. Und auch keins, das die Mächtigen Furcht vor Fluglärmgegnern lehren wird oder gleich das Ruhegeben. Von Marcus Reinsch
Ziemlich sicher sogar, dass weder Landesregierung noch Flughafenbetreiberin Fraport jemals erfahren werden, wie die evangelische Dekanin Reiß in Offenbach einer Menschenkette aus „Hoffnungsbürgern“ begegnet ist.
Aber Hoffnungsbürger, das trifft es genau. Nur wer hofft, der packt nicht, sondern protestiert. Der stellt sich an jenem 17. September 2011, an den viele Offenbacher mit Stolz zurückdenken werden, auf die Bismarckstraße, deren Verlauf ziemlich genau der Einflugschneise für die neue Landebahn des Frankfurter Flughafens entspricht. Der klammert sich mit einer Hand an ein rot-weißes Flatterband, mit der anderen an eine symbolträchtige rote Karte, mit den Lippen an eine Trillerpfeife und mit allem menschenmöglichen Trotz an den Gedanken, dass es das noch nicht war mit dem Kampf gegen den Krach. Der veranstaltet ein großes Gegengetöse. Auch wenn es fünf vor Zwölf ist.
Menschenkette gegen Fluglärm
Das ist es in jeder Hinsicht. Juristisch, weil das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig, das sich im Januar mit den Offenbacher Klagen gegen die schon am 21. Oktober in Betrieb gehende Nordwest-Bahn und ihre verheerende Wirkung aufs Umland befassen soll, der letztinstanzliche Strohhalm für die Lärmgeplagten ist. Danach bliebe nur noch das Bundesverfassungsgericht.
Und auch die Armbanduhr zeigt genau 11.55 Uhr, als noch vor zwei Wochen für die peinlich mickrige Beteiligung an der ersten Oberbürgermeister-Wahlrunde als ignorantes Volk gescholtene Offenbacher den Beweis erbringen, dass sie sich erheben, falls sie einen Sinn darin sehen. Kaum auszumalen, wie lang die Schlangen vor den Wahllokalen wären, wenn nicht Leipziger Verwaltungsrichter, sondern Offenbacher Schlaflose über die Landebahn und das absolute Nachtflugverbot entscheiden dürften.

Vielleicht zweieinhalb Kilometer. Das ist die Länge der Bismarckstraße zwischen der Bieberer Straße und dem Dreieichpark, wo die Dekanin Reiß bei der Abschlusskundgebung so passende Worte finden und auch Gottes Segen nicht unterschlagen wird. Und das ist auch die Länge der Menschenkette, die punkt fünf vor Zwölf den Schritt vom Gehweg auf die Straße macht und von der regieführenden Bürgerinitiative Luftverkehr Offenbach (BIL) verteilte rote Karten in die Luft streckt wie der Schiri beim Fußball - Platzverweis für die Planfeststellung der Landebahn, Ruf nach weniger und nicht mehr Krach am Himmel, adressiert ans Bundesverwaltungsgericht.
4000 Menschen haben sich eingereiht
Die Kette ist komplett. Zwar leidet die akribisch geplante Choreographie ein bisschen an nicht durchgängig herrschender Demo-Disziplin - an einem Kettenende protestieren Leute in zweiter und in dritter Reihe, während am anderen das quasi als Leitstrahl ausgerollte Flatterband noch meterweise auf der Erde liegt. Doch das ist ein Luxusproblem. Das im Vorfeld berechnete Teilnehmersoll, 2500 Menschen für 2500 Meter, ist übererfüllt. Später im Park werden BIL und Polizei eine deckungsgleiche Schätzung abgeben: 4000 Menschen haben sich eingereiht.

Eine Wahnsinnszahl. Erst recht, da der seit 20 Jahren in Sachen Flughafen rast-, weil ruhelosen BIL-Vorsitzenden Ingrid Wagner nur eine gute halbe Stunde zuvor noch nach Heulen gewesen ist. Als sie am Finanzamt über das Recht auf Nachtruhe und die bedrohte Gesundheit der Kinder und den Wortbruch des Ex-Ministerpräsidenten Roland Koch und die „Beruhigungspille der sogenannten Mediation“ sprechen will, ist kaum jemand da, der ihr zuhören könnte. Mehr Menschen sind zwar im Anmarsch, das meldet ein Posten vom Ostbahnhof. Aber später mit der Empörung anfangen, das würde den mit der Polizei abgesprochenen Ablaufplan zerschießen.
Wagners Mitstreiter mit Mikro haben ein Stück die Straße runter größeres Publikum; die Vorsitzende selbst marschiert eben mit der Flüstertüte zwischen Steuerbehörde und Bieberer Straße auf und ab und motiviert Mitmacher. Die vermehren sich plötzlich auf wundersame Weise, als hätten sie in Hauseingängen nur darauf gewartet, gerufen zu werden. Aus 20 auf dem Bürgersteig werden 50, aus denen Hunderte, dann Tausende. Vor dem Hauptbahnhof sind kurz vor dem Schritt auf die Straße die roten Karten knapp.
„OF = Ohne Fluglärm“
Aber es bekommt doch noch fast jeder eine, die BIL-Logistiker liefern auf Fahrrädern Nachschub. Und Dutzende Teilnehmer halten sich an großformatigeren Botschaften fest. Es gibt ein langes BIL-Banner („Offenbach gegen den Ausbau“) an Holzstangen, das bei auffrischendem Wind lieber nicht ausgerollt werden sollte. Für die Verschriftlichung anderer Offenbacher Ansichten zum Fluglärm („Wir brauchen unseren Schlaf“, „OF = Ohne Fluglärm“) sind sicher viele dicke Eddings draufgegangen. Und nach der Gestaltung einiger bunter Plakate mussten deren Halter ihrem Nachwuchs zweifellos neue Wasserfarbkästen versprechen.

Wichtiger Nebeneffekt: Akteure des Widerstands aus verschiedenen Gruppen und Städten, die bisher nur voneinander gehört oder übereinander gelesen haben, begegnen sich jetzt. Der Protest bekommt Gesicht und Gestalt. Offenbach findet Gefallen daran.
Am Grund dafür natürlich nicht. Zu bedrohlich ist, was die Dekanin und der städtische Flughafendezernent Paul-Gerhard Weiß bei Abschlusskundgebung und Trillerpfeifenkonzert anprangern, nachdem sich die Kette zum Demonstrationszug verdichtet hat und in den Dreieichpark gezogen ist: Künftig täglich 1000 statt 700 Jets über der schon heute am stärksten von Fluglärm belasteten Stadt der Republik. 80 Prozent des Stadtgebietes durch Siedlungsbeschränkungen in seiner Entwicklung gelähmt. Ein vom Krach stranguliertes Offenbach als Lärmabfalleimer der Nation...
Als Weiß die Hoffnung formuliert, dass das höchste deutsche Verwaltungsgericht „Land und unbelehrbare Flugverkehrswirtschaft zurückpfeifen“ wird, trillern und klatschen sich die Viertausend im Park außer Atem. Der Fluglärm über dem Westend ist für ein paar Sekunden nicht zu hören. Der Sound des Protests - sicher keine Lösung für die Ewigkeit. Aber in diesem Moment ungemein erlösend.