Vergessene Geschichte(n)

Offenbach - Zeitungsartikel flüstern Geschichte(n). Auch verblichene, verbotene, vergessene. Marina Kampka kennt sie alle. Die Studentin an der Hochschule für Gestaltung hat sich in den vergangenen Monaten ausdauernd durchs städtische Archiv gewühlt. Von Eva-Maria Lill
Ihr Ziel: Geheimnisse rund um hiesige S-Bahnstationen entdecken, dokumentieren und ausstellen. Ihre Wandinstallation „Kandinsky Lives in Offenbach“ war beim Festival der Jungen Talente zu sehen.
Eine ungewöhnliche Idee für ein ungewöhnliches Projekt. „Ich lebe seit sieben Jahren in Offenbach“, verrät die 31-Jährige. Ursprünglich kommt sie aus einem malerischen Dorf an der Mosel, für das Designstudium ist sie an den Main gezogen. „2012 habe ich ein Auslandssemester in London gemacht. Als ich zurückkam, war ich davon fasziniert, wie fremd einem die eigene Heimat plötzlich ist, wie viele selbstverständliche Dinge man hinterfragt.“

Jeden Morgen passiert die Studentin einen S-Bahnhof, jeden Morgen wirft sie einen Blick auf die abstrakten Figuren an den Wänden. „Dann hat mir eine Freundin ,Point and Line to Plane’ von Wassily Kandinsky geschenkt. Und was sehe ich? Die Gestaltung der Haltestellen Marktplatz, Kaiserlei und Ledermuseum erinnert frappierend an sein Diagramm 22.“ Zufall oder „Kunstskandal“? Heute ist das juristisch nicht mehr nachvollziehbar. Der Ursprung der Gebilde geht auf einen 1992/93 ins Leben gerufenen Wettbewerb zurück. Drei Entwürfe kommen in die engere Auswahl, doch die Abstimmung unter den Bürgern enttäuscht: Bloß 44 Stimmen werden abgegeben, die finanziellen Mittel sind erschöpft. Schließlich trifft die Bahn eine Entscheidung und beauftragt ein Architekturbüro mit der Umsetzung von abstrakten Stadtplänen. „Und plötzlich ist Kandinsky da“, schmunzelt Marina Kampka. Bloß in Farbgebung und Details unterscheiden sich das Original des russischen Künstlers und das Offenbacher Bahn-Design.
Infos aus Schlagzeilen der OP, FR und der FAZ
Diese Zufallsentdeckung nimmt die Studentin zum Anlass und dokumentiert die Stationen des S-Bahn-Baus auf fünf großen Texttafeln. Ihre Inspiration? Zeitungssprache, Berichterstattung, Druckerschwärze. „Eine ganze Stadt im Aufbruch“, „Der Zug in die Zukunft“, „Eine gläserne Stadt-Loggia“ – die Schlagzeilen der Offenbach-Post, der Frankfurter Rundschau und der Frankfurter Allgemeinen vor der Eröffnung 1995 müssen wie Musik in den Ohren der Anwohner geklungen haben. Endlich ein positives Stadtbild! Ein Tor in die Region! Zukunft für leidlich unterschätzte Nicht-Frankfurter! Dann die bittere Wahrheit: Nach der Eröffnung bleibt vom erhofften Aufschwung nur Kunst auf dem Abstellgleis, bleiben „Touristen, Raucher, Umweltschweine“.
Die zeitliche Entwicklung des Bahnbaus liest sich wie ein klassischer Fünfakter: Vorstellung, Durchführung, Hoffnung, Höhepunkt, Niedergang. In den Jahren nach 1996 ebbt die Artikelflut plötzlich ab, die schwarzen Tafeln bleiben leer. „Mich hat fasziniert, wie schnell Euphorie in hemmungslose Kritik umschlagen kann“, erklärt Kampka. Viel Positives wird unter dem Aufschrei des Scheiterns nicht mehr wahrgenommen: „Kandinsky lebt in Offenbach, aber niemand sieht ihn.“
Kampkas Kunstwerk ist auch ein Fingerdeut in die Zukunft. Bezeichnend: Das Festival der Jungen Talente fand auf dem Hafengelände statt. „Gold zwischen den Welten“, „Viele erfreuliche Baustellen“, „Noch rau, aber inspirierend“ und „Mit freier Sicht aufs Becken“. Ist die Anlage Hafengold die S-Bahn des neuen Jahrtausends? Wird Utopie zu desillusioniertem Verriss? Was Künstler wohl in 20 Jahren über die leidliche Zukunft denken?