Planfeststellung: Und plötzlich platzt die Bombe
Leipzig/Offenbach - Gute Omen sind gefragt. Also ist Dr. Hartmut Wagner gefragt. In den Tagen vor Beginn der Verhandlung um den Ausbau des Frankfurter Flughafens und seine Auswirkungen auf die Region vor dem Bundesverwaltungsgericht Leipzig hat er viel mehr Mails bekommen als sonst. Von Marcus Reinsch
Gleichgesinnte baten ihn um die Übersetzung und Deutung von Texten, die spitzfindige Horden von Seinesgleichen in froher Erwartung der finalen Schlacht verfasst haben.
Bei Wagner waren sie genau richtig. Der Mann ist nicht nur Sprecher des vom Bürgerinitiativen-Bündnis gegen den Flughafenausbau gegründeten Vereins zur Abwehr von Gesundheitsgefahren durch Lärm. Er ist auch Rechtsanwalt von offensichtlich großem Kaliber. Und am Montagabend vor dem Leipziger Restaurant Mio, das der gerade mit dem ICE angereisten Offenbacher Delegation als Hauptquartier für ihre Treffen dient, erzählt Wagner, dass er bisher dreimal vor dem Bundesverwaltungsgericht verhandelt hat. „Und dreimal gewonnen!“
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Für den Flughafen-Fall ist das mindestens symbolisch wertvoll. Wagner ist zwar weder als Anwalt noch als Berater gen Osten gefahren; seine Leipziger Erfolge drehten sich allesamt um die Finessen des Abwasserrechts - und sein Platz in der Lärm-Verhandlung ist der eines Zuschauers. Aber gerade da wird er gebraucht, gerade da ist einer wichtig, der wirklich verstehen und erklären kann, was sich seine wie Besessene in fremden Zungen redenden Berufskollegen da den ganzen Tag um die Ohren hauen.
In der anfänglichen Mucksmäuschenstille
Dass Rüdiger Rubel, der Senatsvorsitzende, gleich in der anfänglichen Mucksmäuschenstille prophylaktisch feststellt, dass „Beifall etwas ist, das hier ebenso wenig stattfindet wie Missfallensbekundungen“, ist ja noch einfach zu verstehen. Auch wenn sich Rubel irrt - wie sich später erweisen soll, als Offenbachs Prozessbevollmächtigter Reiner Geulen endlich sprechen darf. Aber was genau soll eigentlich dieser „Anwendungsbereich für einen nachgelagerten Planungsleitsatz“ sein, über den ein kompletten Sätzen nicht zugetaner Anwalt aus Mörfelden-Walldorf unbedingt ausführlich diskutieren möchte? Und wie bitteschön darf sich der juristisch unbeleckte oder bestenfalls leicht angefeuchtete Normalsterbliche das „Atypische“ an der Betroffenheit der Betroffenen vorstellen?
Schon jetzt, Dienstag, keine Stunde nach Eröffnung der Revisionsverhandlung, mangelt es nicht an Fragezeichen. Unter den Zuschauern, aber auch unter den Ausgelernten. Rubel lässt sich zwar per Andeutungen in seine höchstinstanzlichen Karten gucken. Aber welche er für das für Ostern erwartete Urteil ausspielen wird, das bleibt selbst den ausgebufftesten Zockern in diesem Allerheiligsten deutscher Verwaltungsgerichtsbarkeit erstmal ein Rätsel.
Unverträglichkeit und Unerträglichkeit des Fluglärms
Macht nichts. Die für Offenbach und die anderen Kläger wesentlichen Fragen nach Unverträglichkeit und Unerträglichkeit des Fluglärms stehen erst am Nachmittag auf der Tagesordnung. Bis dahin werden zwei Dinge klar: Die Prozessbevollmächtigten der acht stellvertretend für 200 Kläger geladenen Musterkläger - neben Offenbach und seinem Klinikum die Städte Neu-Isenburg, Raunheim, Rüsselsheim und Mörfelden-Walldorf, eine Unternehmer-Familie aus Kelsterbach und ein Ehepaar aus Frankfurt-Sachsenhausen - widersetzen sich ziemlich erfolgreich der vom Senatsvorsitzenden mit dem Hinweis ausgerufenen Redezeitbeschränkung, es seien ja noch Ostergeschenke zu kaufen. Und der anfängliche Anspruch, an einem einzigen Tag alle Aspekte des Flughafenausbaus durchzuhecheln, bleibt ein schöner Traum. Verfahrene Situation. Aber es hat sich in all den Jahren des Streits zu viel aufgestaut, um ausgerechnet jetzt den Wunsch des Gerichts zu erfüllen, die sowieso bekannten Argumente nicht alle nochmal auszubreiten. Bis zum Abend ist gerade die Hälfte des Programms abgearbeitet; das Verfahren wird am heutigen Mittwoch also weitergehen.
Und es bieten sich ja auch vergnügliche Momente. Nicht für die Armada aus Anwälten und hochdotierten Verwaltern des Landes und den, wie die gemeinsame Marschrichtung zeigt, zu Recht vom Recht direkt daneben gesetzten Vertretern des Flughafenbetreibers Fraport. Und für Hessens ebenfalls angereisten, aber schweigenden Wirtschaftsminister Dieter Posch (FDP) schon gar nicht. Dafür - und für eine Stimmungswende in der bis dahin wegen einiger Dämpfer von Rubel kaum zu echter Hoffnung berechtigten Ausbaugegnern in den Zuschauerreihen - sorgt vor allem Reiner Geulen.
Lärmkarten von Offenbach
Er wedelt demonstrativ mit Lärmkarten von Offenbach. Die eine zeigt, was die Fraport an Fluglärm für Offenbach prognostiziert und der Verwaltungsgerichtshof Kassel 2009 mitsamt der vom Land erteilten Planfeststellung für die neue Nordwest-Bahn bestätigt hat. Da reicht der schlimmste Krach von Westen kommend etwa bis zur Stadtmitte. Die zweite Karte zeigt, bis wohin sich der Lärmteppich durch den Ausbau in der Realität ausgebreitet hat - bis weit in den Osten Offenbachs. Die dritte Karte zeigt fast deckungsgleich, was die zweite Karte zeigt - nur dass die Linien nun die Lärmschutzbereiche markieren, in denen keine „schutzbedürftigen Einrichtungen“ wie Kinderkrippen, Schulen, Altenheime und eigentlich auch keine Wohnungen mehr gebaut werden dürfen.
Durch diese Bauverbote und Siedlungsbeschränkungen, sagt Geulen, sei Offenbachs Planungshoheit dahin. Die Stadt könne somit auch den ab 2013 gültigen Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz für unter Dreijährige nicht erfüllen. Und das alles, weil die Kasseler Richter den auf „schwer fehlerhaften“ Lärmhochrechnungen der Fraport fußenden Planfeststellungsbeschluss des Landes nicht einkassiert, sondern mit Ausnahme der 17 Nachtflüge bestätigt habe. Mit Nachbesserungen sei es da nicht mehr getan; die komplette Planfeststellung müsse nun vom Bundesverwaltungsgericht aufgehoben werden.
Riesenüberraschung am ersten Verhandlungstag
Und soweit, das ist die Riesenüberraschung an diesem ersten Verhandlungstag, könnte es tatsächlich kommen. Nicht unbedingt wegen der umstrittenen Lärmberechnungsmethode. Aber vielleicht, weil das Land in der Planfeststellung für den Flughafen in der sogenannten Mediationsnacht 17 Flugbewegungen zwischen 23 und 5 Uhr genehmigt hatte - die die Fraport gar nicht beantragt hatte.
Das hat damals eine bis heute eher noch gewachsene Stinkwut in den Kommunen ausgelöst, die sich auf das im Mediationsverfahren verabredete absolute Nachtflugverbot verlassen hatten. Und das nährt nun auch beim Senatsvorsitzenden Rubel die Überzeugung, dass so eine „nicht unbedeutende Planänderung“ zumindest zu einer weiteren Anhörung für alle Bedenkenträger gegen den Flughafenausbau hätte führen müssen.

Die Ausbaugegner im Saal hören’s mit Vergnügen. Wie viele Rhein-Mainer insgesamt in Leipzig sind, ist nicht herauszufinden. Auch nicht, indem man sich heute Abend, wenn die Verhandlung endet und das Warten auf das Urteil beginnt, in den ICE nach hoffnungsfrohem hessischem Gebabbel umhört. Denn außer dem 1895 im italienischen Renaissancestil erbauten Bundesverwaltungsgericht mit seinem wie ein wunderschönes Lebkuchenhaus anmutenden großen Saal hat Leipzig noch Reizvolles genug zu bieten. Mancher wird also ein paar Tage hier bleiben und die Vorzüge auskosten. Gewandhaus, Museen, Kabarett. Und relative Ruhe. Leipzig hat zwar auch einen Flughafen. Aber der ist echt provinziell.