Der Hirsch auf dem Heuwagen

Sprendlingen - Ein ganzes Wohnquartier ist danach benannt und auch das Wappen hat damit zu tun. Beim Hirschsprung handelt es sich um eine Sprendlinger Legende, die für den Ort eine große Rolle spielt und über Generationen weitergegeben wurde. Von Holger Klemm
Doch der Hergang soll ganz anders gewesen sein als bisher angenommen. Davon gehen die Freunde Sprendlingens nach dem Fund eines neuen Dokuments aus.
„Für einen Heimatforscher ist das eine Sensation“, freut sich Wilhelm Ott, Mitglied der Freunde Sprendlingens und Betreiber der Homepage „Steine in der Dreieich“. Von einem holländischen Archivar erhielt er Mitte März per E-Mail eine Mitteilung, die den Hirschsprung in einem neuen Licht erscheinen lässt. „Das Dokument aus dem niederländischen Archiv, das uns vorher nicht bekannt war, ist für die Lokalhistorie von Sprendlingen von außerordentlicher Bedeutung“, betont Ott.
Zwei Steinsäulen zur Erinnerung

Doch der Reihe nach: An der Einfahrt zum Wohngebiet Hirschsprung im Sprendlinger Norden befindet sich an der Frankfurter Straße eine Bronzetafel mit folgendem Text: „Vor Zeiten, als die Jagd im Reichsbann-Forst Dreieich noch in hoher Blüte stand, soll hier ein Hirsch, der von Jagdhunden verfolgt wurde, sich durch einen Sprung über einen beladenen Heuwagen gerettet haben. Im Sprendlinger Stadtwappen ist dieses Ereignis festgehalten.“
Für die Zeitgenossen muss dieser Sprung so bedeutend gewesen sein, dass er bis heute seinen Nachhall findet. Bereits 1432 hieß es „Sprendlingen by dem Hirtzsprunge“. Der Reformator der Dreieich, Erasmus Alberus, berichtete darüber. In seiner Fabel „Von den Hasen“ ist 1630 von dem springenden Hirsch die Rede. Und auf diese geht der bisher angenommene Hergang zurück, wie Wilhelm Ott erklärt. Man hatte sogar zwei Steinsäulen zur Erinnerung an das Ereignis aufgestellt, die in alten Landkarten eingezeichnet sind.
Warum sprang der Hirsch?
Doch die Freunde Sprendlingens hatten immer ihre Zweifel. Warum sprang der Hirsch mit letzter Kraft über den Heuwagen und rannte nicht um ihn herum? Warum sollte er sich dabei gerettet haben, da die Jäger und Hunde einen Bogen um den Wagen hätten machen können? Für die Heimatforscher, die die unterschiedlichsten Theorien erörterten, passte das alles nicht zusammen. Dazu kam noch ein weiteres Rätsel. Der älteste Beleg für den Hirsch im Sprendlinger Wappen ist ein Gerichtssiegel aus dem Jahr 1714. Bereits da war das Tier auf einem Heuhaufen stehend und nicht im Sprung abgebildet.
Doch dem Archivar Henk Hovenkamp aus dem niederländischen Noordwest-Veluwe ist nun zu verdanken, dass Aufklärung in Sicht ist. Bei der Durchsicht eines alten Reisetagebuchs aus dem Jahr 1610 wurde er fündig und kontaktierte die Sprendlinger Heimatforscher über das Internet.
Neue Interpretation möglich
Geschrieben wurde es von Ernst Brink, dem ehemaligen Bürgermeister von Harderwijk, der 1595 von Darmstadt nach Frankfurt reiste. Sinngemäß steht dort zu lesen, dass er vor Frankfurt einen großen Wald passierte und zwei voneinander stehende Säulen fand. Brink erzählt, dass an dem Ort ein Hirsch – verfolgt von Jägern – auf einen vorbeifahrenden Heuwagen auf- und nach einem Stück wieder abgesprungen sein soll. Die eine Säule erinnerte an die Stelle, wo er auf-, und die andere, wo er absprang.
„Der Text ermöglicht eine relativ widerspruchsfreie neue Interpretation“, ist sich Ott sicher. Das Tier ist nicht über, sondern auf den Heuwagen gesprungen. Sicherlich hätten die Jäger mit ihren Hunden die Jagd erfolgreich fortsetzen können. Doch dann hätte es kein Happy End der Legende gegeben.
Heimatkunde ist spannend
„Vermutlich waren die Jäger von dem Sprung auf den Heuwagen so beeindruckt, dass sie den Hirsch nicht weiterverfolgten und ihm sein Leben ließen“, glaubt Ott. Das Bild des stattlichen Tieres auf dem fahrenden Heuwagen muss so eindrucksvoll gewesen sein, dass man am Ort des Geschehens die besagten Steine aufstellte. Vor diesem Hintergrund ergebe auch die Darstellung im Sprendlinger Stadtwappen Sinn.
„Heimatkunde ist eine spannende Angelegenheit“, betonen Willi Menzer und Wilhelm Ott von den Freunden Sprendlingens. Immer wieder kann es dabei – wie in diesem Fall – Überraschungen geben. Und das, obwohl Heimatforscher in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten alle Archive der Umgebung durchforstet haben. Doch nicht zuletzt dem Internet ist es zu verdanken, dass neue Funde europaweit ans Licht kommen.