Marathon-Mann

Zwei Mal die Woche joggt Oliver Reese etwa eine Stunde lang. Ausgerechnet dieser sportliche Ausgleich zur vielen Arbeit im Theater hat ihm inmitten des Premierenmarathonmonats Oktober einen weiteren Marathon beschert. Von Astrid Biesemeier
Schauspieler Oliver Kraushaar hatte Reese und zwei weitere Kollegen kurzerhand für eine Viererstaffel beim Frankfurt-Marathon am 25. Oktober angemeldet. Gut, Reese muss nur ein Viertel der Strecke laufen. Doch als Intendant kann er seinen Kollegen natürlich unmöglich den Schnitt verderben. Außerdem, so sagt er lachend: „Einige der besten Ideen entstehen beim Laufen, das kann süchtig machen.“
Reese wirkt erstaunlich entspannt. Dabei dürfte einiger Erwartungsdruck auf dem neuen Intendanten des Frankfurter Schauspiels lasten. Immerhin hat sich an sieben großen deutschsprachigen Theatern von Wien bis Zürich in diesem Jahr das Intendantenkarussell gedreht. Eine dieser Bühnen ist Frankfurt, und da gilt es im Wettbewerb zu bestehen.
Zudem hat Reese nach eigenen Worten ein aufregendes, aber sehr anstrengendes Jahr an zwei Theatern hinter sich. Vorbereitung der Spielzeit in Frankfurt, Interimsintendanz am Deutschen Theater Berlin. Baustellen am Main, Asbest an der Spree. Wöchentliche Fahrten zwischen den Städten. Kontakte knüpfen in Frankfurt zu Banken, Firmen, Stiftungen, Institutionen, Menschen. War da überhaupt an Urlaub zu denken?
Ins Metropolengewirr von Istanbul hatte er sich gestürzt, die spannenden Gegensätze, von extrem modern bis ultrakonservativ, aufgesogen. Auch wenn er noch eine Woche am Meer verbracht hat, so ist dem bekennenden Großstadtmenschen und Vielarbeiter ein typischer Erholungsurlaub eher fremd. Er ist ganz glücklich, Arbeit und Leben nicht auseinander dividieren zu müssen.
Reese, der früher Dramaturg war, sich als Sprach-Maniac bezeichnet und auch Stücke bearbeitet hat, inszeniert selbst. Am 11. Oktober soll die Übernahme seiner Inszenierung „Ritter, Dene, Voss“ vom Deutschen Theater Berlin ihre Frankfurt-Premiere haben. An dem so abgründigen wie komisch-bösen Geschwisterdrama interessierte Reese Thomas Bernhards Sprachirrwitz, seine Monomanie, seine Verzweiflung, die er in der Hölle dieser Familiengeschichte spiegelt. „Das sind fantastische Figuren für das Theater!“, ruft Reese begeistert.
Im Dezember hat Jean Racines „Phädra“ in seiner Inszenierung Premiere. „Ein kühnes Stück“, schwärmt er, „ein Stück auf Liebe und Tod. Leidenschaftliche Gefühle und strenge Form treffen in dieser Tragödie aufeinander.“ Kann man aus der Geschichte um Phädra, die sich verbotenerweise in ihren Stiefsohn Hippolytos verliebt, so etwas wie ein künstlerisches Credo Reeses herauslesen?
Theater- ein sinnliches Medium
„Vielleicht. Theater hat für mich viel mit der Verbindung von Form und Eros zu tun. Es ist ein durch und durch sinnliches Medium. Der Vorgang des Zurschaustellens auf der Bühne ist per se ein erotischer Vorgang. Deswegen gehen wir doch ins Theater, oder? Schauspieler sind Geschichtenerzähler und Verführer. Was für eine herausfordernde Verbindung!“
Schwellenangst kennt der berufliche wie leidenschaftliche Theatergänger Reese nicht. Auch das Publikum, so findet er, müsse keine Schwellenangst haben. Theater scheint er als eine Art Labor zu sehen, in dem unterschiedliche Strategien von Lebensbewältigungen und Lebensentscheidungen durchgespielt werden.
„Theater kann in extremer Art und Weise vor Augen führen, was passieren kann“, meint Reese. „Denn im Theater erzählen wir Geschichten, in denen sich das Publikum wiedererkennen kann. Geschichten von etwas, was sich die Menschen im Leben so vielleicht nicht trauen. Geschichten jedenfalls, die über das Private und Alltägliche hinausreichen. Die großen Stoffe und Fragen von Macht, Missbrauch, Schuld, Leidenschaft und Verrat: Damit gehen wir jeden Tag auf der Probe um.“
Bei aller Begeisterung für Geschichten und Theater – Reeses Terminkalender scheint auch nach einem Theatertag voll zu sein: Hochhausführung, Bahnhofsviertel-Nacht, Städel, Schirn, Konzertbesuch im „Nachtleben“. Er scheint alle Möglichkeiten zu nutzen, mit Frankfurt Kontakt aufzunehmen. Und vielleicht ist er der erste Intendant, der sich über einen Marathon seine Stadt erläuft.