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Mit Capoeira aus dem Abseits

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Der Neu-Isenburger Lungenspezialist Dr. Frank Freytag verhilft Kindern in Brasilien zu besserer Gesundheitsversorgung und mehr Chancen auf Bildung.
Der Neu-Isenburger Lungenspezialist Dr. Frank Freytag verhilft Kindern in Brasilien zu besserer Gesundheitsversorgung und mehr Chancen auf Bildung. © p

Neu-Isenburg - Ein Schüler habe Asthma, erzählten die Verwandten. Ob er ihn untersuchen könne. Kein Thema für Dr. Frank Freytag, den Isenburger Lungenspezialisten – so gut es nun mal ging im Urlaub, mit den Mitteln, die der Internist als „Barfußmedizin“ bezeichnet: ein Stethoskop und ein paar Medikamente. Von Stefan Mangold

Wenig, aber relativ viel für jene, um die sich sonst kein Mediziner kümmert. Von diesem Tag hängt ein Bild in seiner Praxis. Freytag zeigt außerdem ein Foto von den Fußflächen eines Jungen. Die Zehen bedecken offene Stellen. Der Bub besaß keine Schuhe, „ihn bissen die Flussflöhe“. Dann legten Fliegen Eier in den Wunden ab. Ohne das Antibiotikum für fünf Euro wäre der Achtjährige an einer Blutvergiftung gestorben. Zwischen Asthma und Entzündung liegen bereits ein paar Jahre. Deshalb der Reihe nach: In Deutschland lernt der heute 52-Jährige vor mehr als zehn Jahren die brasilianische Grundschullehrerin und Tanzpädagogin Vali da Silva Cruz kennen. Lange dauert es nicht und das Paar fliegt 2005 nach Brasilien, um der Verwandtschaft in Poco Branco den einjährigen Sohn zu zeigen. Die Klein-stadt liegt unweit der Küstenstadt Natal, 2000 Flugkilometer nördlich von Rio. Damals untersuchte Freytag nicht nur den Asthmatiker, sondern gleich die ganze Schule.

Während er Herzen und Atemwege abhört, tauchen Kindergesichter an den Fenstern auf. Wer die Schule besucht, trägt eine Uniform und darf sich privilegiert fühlen. Die Kinder draußen sind die Underdogs, der Nachwuchs der Habenichtse, der „sin tierra“ und „quilombolas“, der Landlosen und Nachfahren der Sklaven. Zwar herrscht auch in Brasilien Schulpflicht, doch wenn Eltern ihre Kinder nicht lassen, juckt das keine Behörde, „das sind billige Arbeitssklaven“. Zu denen geht Freytag später, beobachtet, mit was sich die Kinder beschäftigen, wenn sie nicht Müll sammeln, im Schlachthof durch Gedärme waten oder Zuckerrohr hauen: mit Capoeira, dem brasilianischen Kampftanz. „Von dem wusste ich damals fast nichts“, erinnert sich der Arzt mit dem kulturellen Sinn, dessen Fotografien aus Brasilien Kunstwerken gleichen.

Freytag erzählt, wie sich die Kinder wunderten. Den Europäer interessierte ihr Alltag. Dann ging alles zügig. Freytag gründete das Projekt Capodanca, eine Schule für Capoeira. Vier Jahre später kaufte der Vater von mittlerweile zwei Kindern ein heruntergekommenes Haus, das er zusammen mit den jungen Tänzern renovierte. Das überraschte manche Wohlsituierte im Ort, „die sahen, die können ja etwas“. Nämlich viel arbeiten, mit handwerklichem Geschick ein Dach abdecken, Mauern hochziehen, „die begreifen das als ihr zu Hause“. In dem sie für Stunden sicher sind, vor Suff, Gewalt und sexuellen Übergriffen, den üblichen Armutsbegleitern. Mit dem Erwerb der Immobilie gründete Freytag, der Vorsitzende von „Kinderbrasil e.V.“ mit Sitz in Isenburg, auch vor Ort einen Verein, um Gelder zu sammeln. Auf Zuschüsse staatlicher Stellen lässt sich dort nur theoretisch bauen. Im Moment sind es 80 Kinder, die hier mit Trainern üben. Wer mitmachen will, muss sich an Regeln halten: Keine Drogen, kein Alkohol. Stattdessen gibt es Computerkurse und Aufklärung, wie sich HIV und Schwangerschaft vermeiden lassen. Und Rückschläge. Anfangs behandelten Zahnärzte unentgeltlich. Später blieben die weg.

Straßenschlachten halten Brasilien in Atem

Wer trainiert, muss die Schule besuchen. „Bildung ist existentiell“, betont Freytag, der 80 Prozent der Kosten aus der eigenen Tasche deckt. Das wird zunehmend schwieriger. Die Preise im wachstumsstarken Brasilien steigen enorm. Die Capoeira-Lehrer können es sich nicht mehr leisten, ehrenamtlich zu unterrichten. Viermal im Jahr fährt Freytag nach Poco Branco, wie vor Kurzem. Was ihn trotz der Dämpfer motiviert, sind Sätze wie die eines Jungen: „Vor Capodanca war ich Dreck. Heute bin ich jemand.“

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