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Gewerkschafterin über Lkw-Streik: „So ein Aufschrei war überfällig“

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Von: Pitt von Bebenburg

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Gewerkschafterin Anna Weirich hofft, dass der Streik der Lkw-Fahrer an der Raststätte Gräfenhausen zum Wendepunkt in der Transportbranche wird.

Frau Weirich, Sie beobachten die Güterverkehrsbranche schon länger. Waren Sie überrascht von dem brachialen Vorgehen des polnischen Unternehmers gegen die streikenden Fahrer in Gräfenhausen?

Jein. Wir wissen schon seit langem, wie die Zustände in der Branche sind, und dass das teilweise kriminelle Strukturen sind, in denen vor wenig zurückgeschreckt wird. Die Fahrer hatten uns auch schon berichtet, dass bei verschiedenen Gelegenheiten Fahrer Gewalt erfahren haben. Natürlich war ich trotzdem erschrocken und auch überrascht, dass der Unternehmer am helllichten Tag einen solch martialischen Auftritt auf einem deutschen Rastplatz abgeliefert hat. Er hat in aller Öffentlichkeit sehr deutlich sein Gesicht gezeigt.

Kann das schockierende Ereignis von Gräfenhausen ein Weckruf sein?

Ich hoffe es. Im Moment gibt es Aufmerksamkeit für das Thema, auch in der Politik. Ich hoffe sehr, dass diese hart arbeitenden Männer die ihnen zustehenden Zahlungen sehr bald bekommen. Aber ihr mutiger Protest steht für viel und für viele mehr. So ein Aufschrei war überfällig. Unsere Beratungsstelle von „Faire Mobilität“ und unsere gewerkschaftlichen Kolleg:innen weisen schon sehr lange auf die Probleme in der Branche hin, ohne dass sich an den Arbeitsbedingungen der Lkw-Fahrenden etwas zum Besseren ändern würde. Vielleicht können wir im Nachhinein sagen, dass das hier ein Wendepunkt war. Ich würde mir das sehr wünschen.

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Wie kommt es eigentlich, dass ein polnischer Unternehmer, der in Deutschland Lkws betreibt, mit usbekischen und georgischen Fahrern unterwegs ist?

Die ökonomischen Verhältnisse sind in diesen Ländern noch schwieriger. Diesen Menschen werden geringere Löhne angeboten als ihren Kolleg:innen aus der EU und sie befinden sich in einer noch größeren Abhängigkeit, weil sie weit weg sind von ihren Familien, ihrem Umfeld und ihren Heimatgewerkschaften und ihre Aufenthaltserlaubnisse häufig an das Arbeitsverhältnis geknüpft sind. Dies wird von Unternehmen in der Branche ausgenutzt, um die Löhne zu drücken. Viele Fahrer:innen arbeiten lange ohne Unterbrechung und wohnen über Monate hinweg im Lkw. Wir wissen, dass für Lukasz Mazur auch Nepalesen und Philippiner fahren.

Anna Weirich ist seit 2021 Branchenkoordinatorin internationaler Straßentransport beim Beratungsnetzwerk „Faire Mobilität“ des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB). Sie hat ihren Sitz in Frankfurt.
Anna Weirich ist seit 2021 Branchenkoordinatorin internationaler Straßentransport beim Beratungsnetzwerk „Faire Mobilität“ des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB). © Michael Schick

Was sind die größten Probleme?

Im internationalen Straßentransport müssen endlich vernünftige Löhne gezahlt werden in der Höhe der Länder, in denen gefahren wird. Die meisten Fahrer, die wir ansprechen, werden aber nach dem Spesenmodell bezahlt. Das heißt, sie haben sehr geringe sozialversicherungspflichtige Löhne. Die meisten Fahrer arbeiten 13 bis 15 Stunden am Tag. Aber dokumentiert werden nur die Lenkzeiten, nicht die übrigen Arbeitsstunden. Bei den Verträgen in Gräfenhausen sehen wir auch Scheinselbstständigkeitsverträge. Es gibt außerdem Probleme bei der Gesundheitsversorgung. Niemand von denen, die zum Arzt mussten, besaß eine europäische Krankenversicherungskarte.

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Wie lange wird der Streik noch weitergehen?

Die Männer sagen: So lange, bis sie ihr Geld haben. Der Unternehmer Mazur lässt sich bisher auf keine seriösen Verhandlungen ein.

Was müsste sich ändern, um die Lage der Fahrer zu verbessern?

Die Fahrer sind für multinationale Unternehmen wie VW, Mercedes oder Ikea unterwegs, mit DHL und anderen als zwischengeschalteten Speditionen. Diese Unternehmen müssen ihrer Verantwortung nachkommen – und zwar nicht nur, indem sie die Zusammenarbeit mit den Firmen von Lukasz Mazur einstellen. Diese Firmen sollten auch dazu beitragen, dass die zustehenden Löhne gezahlt werden. Dann geht dieser Protest sicherlich schneller zu Ende.

Interview: Pitt von Bebenburg

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