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„Sehr schräge Debatte, was Finanzen betrifft“: Nancy Faeser über Asyl, Lehrermangel und Hanau

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Von: Yvonne Backhaus-Arnold, Holger Weber-Stoppacher

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Nancy Faeser sieht sich als Bundesinnenministerin großen Herausforderungen gegenüber – und will gleichzeitig die Menschen in Hessen überzeugen.

Hanau/Berlin – Am Mittwoch (10. Mai) findet in Berlin der Bund-Länder-Gipfel zur Flüchtlingskrise statt. Im Interview mit unserer Redaktion macht Bundesinnenministerin Nancy Faeser ihre Position deutlich. Auch spricht sie darüber, wie sie als Spitzenkandidatin der SPD die Politik in Hessen verändern will.

Beim Gespräch wurde sie von den heimischen Landtagskandidaten Christoph Degen, zugleich SPD-Generalsekretär, sowie Jutta Straub und Rainer Schreiber begleitet.

Frau Faeser, Sie befinden sich im Epizentrum der hessischen Flüchtlings- und Asylproblematik, jedenfalls stellen das so Ihre eigenen Parteifreunde vor Ort dar. Es fehlt an Geld zur Integration und an Unterbringungsmöglichkeiten. Haben Sie Hoffnung, dass Sie nach dem Bund-Länder-Gipfel mit guten Nachrichten für die gestressten Kommunalpolitiker aufwarten können?

Nancy Faeser: Ich war selbst 30 Jahre in der Kommunalpolitik. Ich verstehe sehr gut, was in den Kommunen wichtig ist – und wie groß der humanitäre Kraftakt ist, den die Kommunen erbringen, um vor allem die vielen Geflüchteten aus der Ukraine gut aufzunehmen und zu versorgen. Wir dürfen nicht vergessen: Putins furchtbarer Krieg hat die größte Fluchtbewegung in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg verursacht. Wir haben jetzt mehr als 1.060.000 Menschen aus der Ukraine in Deutschland aufgenommen, großteils Frauen und Kinder. Ich kann nicht über weitere finanzielle Unterstützung entscheiden – das ist Sache des Bundesfinanzministers und der Ministerpräsidenten in den Verhandlungen mit dem Bundeskanzler. Was aber mir als Bundesinnenministerin besonders wichtig ist, ist eine dauerhafte Entlastung der Kommunen. Das geht nur mit europäischen Lösungen. Ich kämpfe mit aller Kraft dafür, dass wir endlich ein europäisches Asylsystem bekommen, das auch funktioniert – und zu einer faireren Verteilung in Europa führt.

Bei der Asylpolitik ist die Interessenslage in Europa sehr divergent. Das Dublin-System ist gescheitert, weil die Geflüchteten an der Außengrenze nicht registriert, sondern weitergeschickt worden sind.

Faeser: Damit wir im Inneren ein Europa der offenen Grenzen bleiben können, brauchen wir nach außen einen lückenlosen Schutz der EU-Außengrenze. Wir haben im letzten Jahr einen wichtigen Durchbruch erreicht. Wir sorgen dafür, dass an der EU-Außengrenze künftig alle Menschen kontrolliert und registriert werden. Die Screening-Verordnung, die das regelt, haben wir schon im Rat der EU-Innenministerinnen und Innenminister beschlossen. Mein Eindruck ist, dass viele Länder in der EU ein nachhaltiges Interesse daran haben, ein gemeinsames Asylsystem zu schaffen. Ich habe – gemeinsam mit Frankreich – eine Gruppe aus inzwischen sieben Staaten gegründet, die die Verhandlungen gemeinsam vorantreiben wollen. Wir wollen der Motor sein für dieses große europäische Reformprojekt.

Nancy Faeser spricht im großen Interview über Asylpolitik, Lehrermangel und Sicherheit – auch in Bezug auf das Attentat in Hanau.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser spricht im großen Interview über Asylpolitik, Lehrermangel und Sicherheit – auch in Bezug auf das Attentat in Hanau. © M. Popow/IMAGO

„CDU-Kollegen tun so, als ob man mit dem Finger schnipsen und alle Probleme lösen könnte“

Sie wollen unter anderem in Asylzentren an den Außengrenzen schaffen, von wo aus Asylbewerber zurückgeschickt oder verteilt werden sollen. Bis es zur Umsetzung dieser Verfahren kommen könnte, wird mindestens noch ein Jahr vergehen. Die Kommunen sind am Limit, können einen weiteren Zustrom nicht verkraften. Wie können Sie helfen?

Faeser: Für die notwendige Entlastung der Kommunen sorgen wir, indem wir die Migration viel stärker steuern und ordnen, als das in der Vergangenheit der Fall war. Wir haben schon für wesentlich schnellere und weniger bürokratische Asylverfahren gesorgt. Jetzt geht es darum, Prozesse in den Ausländerbehörden schneller zu digitalisieren und zu vereinfachen. Auch die konsequente Rückführung von abgelehnten Asylbewerbern stärken wir. Wir werden weitere Migrationsabkommen mit Herkunftsstaaten schließen, um reguläre Migration – vor allem von qualifizierten Arbeitskräften – zu ermöglichen und irreguläre Migration zu begrenzen. Das Haupthindernis für Rückführungen, nämlich die Verweigerung der Rücknahme von Staatsangehörigen durch ihre eigenen Herkunftsstaaten, wollen wir so aus dem Weg räumen.

Christoph Degen: Viele CDU-Kollegen tun so, als ob man mit dem Finger schnipsen und alle Probleme lösen könnte. Ich will nur sagen: Frau Faeser hat in eineinhalb Jahren mehr erreicht als viele ihrer CDU-Vorgänger in 16 Jahren, was Rückführung und Verteilung in Europa betrifft.

Muss die Bundesregierung nicht mehr Verantwortung für die Unterbringung und die Integration der Geflüchteten übernehmen und damit Länder und Kommunen entlasten?

Faeser: Mit geht es um schnelle und gute Integration. Wir haben deshalb Integrationskurse rasant ausgebaut: In den letzten 12 Monaten haben mehr als 400.000 Menschen einen Integrationskurs begonnen – das sind mehr als in den drei Jahren 2019, 2020 und 2021 zusammen. Die schwierigste Frage ist die der Unterbringung. Das ist ein gemeinsamer Kraftakt aller drei staatlichen Ebenen – der Kommunen, der Länder und des Bundes. Die Kommunen haben da schon sehr viel getan und müssen entlastet werden. Als Bund stellen wir 70.000 Unterbringungsplätze in Bundesimmobilien mietfrei zur Verfügung und prüfen laufend, was wir zusätzlich anbieten können. Wir haben auch die Städtebau-Förderrichtlinien geändert, sodass man diese auch für den Bau von Flüchtlingsunterkünften in Anspruch nehmen darf. Außerdem wird das serielle Bauen helfen. Es muss aber auch einen Weg geben, dass die Kommunen die Unterkünfte nicht zurückfahren müssen, wie in den Landesrechnungshöfen und Kommunalaufsichten nach der Krise 2015/2016 gefordert wurde. Wir müssen Kapazitäten offenhalten, sonst haben wir immer wieder die gleichen Schwierigkeiten. Und es trifft immer wieder die Kommunen am härtesten.

Lehrermangel in Hessen: „Die Probleme waren absehbar“

Der starke Zustrom sorgt für eine Verschärfung vieler bereits existierender Probleme in den Kitas, in den Schulen, wo es ja ohnehin schon an Erziehern und Lehrern mangelt.

Faeser: Der Lehrermangel hat aber andere Ursachen, das sollte man nicht vermengen. Und das ist etwas, das wir im Land Hessen ändern wollen. Die Probleme waren absehbar – etwa die große Zahl der Lehrkräfte, die in Pension gehen. Aber Sie haben recht: Die Probleme verschärfen sich und wir brauchen dafür Lösungen, die wir nur gemeinsam auf allen politischen Ebenen finden. Der Bund darf aber in vielen Bereichen gar nicht agieren. Ich finde interessant, wie sehr sich die Debatte in Richtung Bund verschiebt. Ich vermute einmal, dass es auch damit zu tun hat, dass ich für das Amt der Ministerpräsidentin kandidiere.

Was sind dann die Rezepte der Landespolitikerin Nancy Faeser?

Faeser: Natürlich die finanzielle Entlastung der Kommunen, auch im Hinblick auf die Krankenhäuser. Wir sagen seit Jahren, dass die Landesregierung ihrer gesetzlichen Verpflichtung nachkommen und die Krankenhäuser ordentlich finanzieren muss. 18,4 Millionen Euro aus eigenen Mitteln in die Hand zu nehmen, ist einfach viel zu wenig. Das geltende Fallpauschalensystem ist nicht ausreichend. Die Kreise sind gezwungen, Investitionsmaßnahmen zu übernehmen. Hier im Main-Kinzig-Kreis und in der Stadt Hanau machen die Kollegen das sehr vorbildlich. Aber das Geld, das ja durch die Kreisumlage von den Kommunen kommt, fehlt dann an anderer Stelle.

Könnten die Kommunen angesichts der starken Belastung unter einer von Ihnen geführten Landesregierung mit mehr Toleranz rechnen, was die Einhaltung der Haushaltsdisziplin angeht?

Faeser: Es geht darum, die Kommunen mit finanziellen Mitteln besser auszustatten. Das ist einer der zentralen Punkte unseres Wahlprogramms. Wir haben zurzeit eine sehr schräge Debatte in der Bundesrepublik, was Finanzen betrifft. Der Bund hat einen sehr schwierigen Haushalt durch den Krieg in der Ukraine und die Entlastungen von 300 Milliarden Euro für die Bürgerinnen und Bürger. Alle zeigen auf uns, obwohl Länder wie Hessen Überschüsse erwirtschaften.

Degen: Unser Plan ist auch, die Kommunen zu entlasten, indem wir einen Teil der Personalkosten übernehmen, die in den Kitas anfallen. Zudem wollen wir die Straßenausbaubeiträge komplett abschaffen und den Kommunen gegenfinanzieren.

Faeser: Der defizitäre Bereich der Haushalte liegt ganz klar in der Kinderbetreuung. Gucken Sie zum Beispiel nach Eschborn, die reichste Kommune im Land Hessen. Auch dort hat man bei den Kitas ein Defizit. Zwar wird das Minus dort durch enorm hohe Gewerbesteuereinnahmen ausgeglichen, doch zeigt das Beispiel, dass die Kinderbetreuung unterfinanziert ist. Deswegen wollen wir als SPD dafür sorgen, dass das Land zwei Drittel der Kitakosten übernimmt.

Nancy Faeser: „Das wichtigste Gegenmittel: Mehr Polizei auf der Straße“

Zu wenig Personal gibt es auch bei der hessischen Polizei. Das ist nach dem Anschlag vom 19. Februar 2020 immer wieder öffentlich diskutiert worden. Wieviel Beamte mehr würde es mit Nancy Faser als Ministerpräsidentin geben?

Faeser: Wir haben da einen sehr präzisen Vorschlag: nämlich pro Dienststelle ein Auto mehr auf die Straße. Das heißt in Summe zwölf Beamtinnen und Beamte mehr pro Dienststelle. Das ist das, was unser Anspruch als SPD ist. Mehr Polizei auf der Straße bedeutet für die Bürgerinnen und Bürger mehr Sicherheit. Und das sofort. Sie haben vielleicht verfolgt, dass ich als Innenministerin 2022 eine Dunkelfeldstudie ausgewertet habe. Ein Ergebnis war, dass viele Frauen sich nicht trauen, abends rauszugehen, die öffentlichen Nahverkehrsmittel zu nutzen. Da ist das wichtigste Gegenmittel: Mehr Polizei auf der Straße.

Sie waren früher selbst viel in den Dienststellen in Hessen unterwegs…

Faeser: … ja, und da gab es überall diese Knappheit an Beamtinnen und Beamten, die dazu führt, dass es eine Überlastung gibt, keine verlässlichen freien Wochenenden. Um das abzufangen, wäre es gut, einen Strang mehr pro Dienststelle zu haben.

Was hätten Sie in Verantwortung anders gemacht nach dem Attentat?

Faeser: Ich hätte mir gewünscht, dass man den Familien von Beginn an die Möglichkeit gegeben hätte, mit den Sicherheitsbehörden in den Austausch zu gehen. Ich glaube, dass das sehr geholfen hätte, das tief erschütterte Vertrauen in unseren Staat langsam zurückzugewinnen und die Familien der Opfer zu unterstützen.

Land Hessen Schlusslicht bei Genehmigungszeiten für Windräder

Kurios, dass sie als SPD jetzt den Punkt beim Thema innere Sicherheit und personelle Ausstattung der Polizei setzen, eigentlich das klassische Thema der CDU.

Degen: Am Ende geht es hier auch um soziale Gerechtigkeit. Wir können uns vielleicht eine Kamera am Haus leisten, bessere Fenster oder Türen, aber das kann sich nicht jeder leisten. Es muss aber unser Ziel sein, dass sich jeder in diesem Bundesland sicher fühlt.

Immer mehr eine Frage der sozialen Gerechtigkeit wird auch die Klimadebatte. Hessen soll als eines der ersten Bundesländer klimaneutral werden. Wie können Sie den Kommunen vor Ort, den Menschen in Hessen hier unter die Arme greifen?

Faeser: Es gibt hier drei wichtige Stränge. Für mich muss Klimaschutz sozial gerecht gestaltet werden, ansonsten hat er keine Akzeptanz in der Bevölkerung. Als Landesregierung müssen wir aber auch den Kommunen helfen, übrigens genauso wie der Industrie. Die Politik muss den Weg aktiv mitgestalten, damit Arbeitsplätze erhalten bleiben.

Degen: Ein Beispiel aus der Praxis: Das Land Hessen ist das Bundesland mit den längsten Genehmigungszeiten für Windkraftanlagen. Das kann nicht sein. Die Grünen tun so, als würde mit ihnen alles schneller und besser gehen. Sie regieren jetzt seit zehn Jahren in Hessen – und wir sind Schlusslicht, was die Genehmigungszeiten angeht. Da muss einfach mehr getan werden – gerade bei den Regierungspräsidien.Rainer

Rainer Schreiber: Für den Windpark Jossgrund mit sechs Windrädern, wo 95 Prozent der Bevölkerung dahinterstehen, brauchte es mehr als fünf Jahre bis zur Genehmigung. Ich bin parteilos gewesen. Die Nähe zur SPD kam, weil ich das Gefühl hatte, mit den Sozialdemokraten kann man etwas bewegen. Die CDU habe ich nie so erlebt.Faeser:

Faeser: Fünfeineinhalb Jahre sind völlig inakzeptabel. Wir tun als Bundesregierung hier auch etwas, das man eigentlich von der CDU erwartet hätte: Genehmigungsverfahren entschlacken. Das ist dringend notwendig in Deutschland. An den schnellen Genehmigungen der LNG-Terminals sieht man, dass es geht.   

Bundesinnenministerin erklärt in den Redaktionsräumen des Hanauer Anzeigers ihre Strategie für Hessen.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser erklärt in den Redaktionsräumen des Hanauer Anzeigers ihre Strategie für Hessen. © Patrick Scheiber

Landtagswahl in Hessen: Faeser in der Opposition „verrückt“

Die Umfragen deuten auf ein „Weiter so“ in Hessen hin…

Faeser: Umfragewerte sind immer nur Momentaufnahmen. Die Landtagswahl in Hessen im Oktober ist für viele Menschen noch weit weg – das nehme ich auch so wahr. Unsere wichtigste Aufgabe ist es jetzt, den Bürgerinnen und Bürgern zu vermitteln, dass sie die Möglichkeit haben, am 8. Oktober einen kraftvollen Neustart zu wählen. Hessen bleibt im Moment weit hinter seinen Möglichkeiten zurück. Mehr Lehrerinnen und Lehrer, mehr Erzieherinnen und Erzieher, mehr Sicherheit. Meine Kandidatur ist mir eine große Herzenssache. Ich will Hessens erste Ministerpräsidentin werden.

Selbst in Ihrer Partei hört man Kritik an der Ankündigung, im Falle einer Niederlage in Berlin bleiben zu wollen. Was sagen Sie den Kritikern?

Faeser: Mir gegenüber gab es die Kritik nicht. Es haben sich alle sehr gefreut, dass ich kandidiere. Ich war 18 Jahre lang im Landtag, ich war Oppositionsführerin – meine Partei weiß, wie sehr sie sich auf mich verlassen kann. Und die Hessinnen und Hessen wissen das auch.

Degen: Es wäre verrückt, die beste Kraft, die wir in Hessen haben, auf die Oppositionsbank zu schicken. Nancy Faeser gehört in eine Regierung, am liebsten als Ministerpräsidentin in Hessen, sonst als Innenministerin im Bund.

„Die CDU ist einfach fertig“: Mit diesen Worten läutete der hessische SPD-Generalsekretär Christoph Degen den Wahlkampf ein.

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