Justitia an vorderster Front

Kaum eine Institution in der Stadt kann auf eine so lange Geschichte zurückblicken: Das Amtsgericht Offenbach gibt es seit 1879. Dass dort nicht nur Urteile gefällt werden, wollen wir in einer Serie deutlich machen. In loser Folge stellen wir die Aufgaben und Abteilungen des Gerichts vor. Heute ein erster Überblick.
Offenbach – Die Besonderheiten des Amtsgerichts Offenbach? Präsident Stefan Mohr zieht zur Beantwortung dieser Frage einen treffenden Vergleich: „Während es am Amtsgericht Königstein um Zugewinn-Ausgleich geht, werden bei uns Anträge auf Verfahrenskostenhilfe gestellt.“
Auch Justitia kann sich halt nicht abkoppeln von der Sozialstruktur einer Stadt. Demgemäß sind etwa Dolmetscher am Offenbacher Amtsgericht gefragter als anderswo, haben Angeklagte oder Streitparteien öfter einen Migrationshingrund als an anderen Gerichten im Land.
Doch man würde der Institution Amtsgericht in Offenbach nicht gerecht, reduzierte man sie auf allein auf diese Betrachtung. Das Amtsgericht Offenbach ist eins von sechs sogenannten Präsidialgerichten in Hessen. Es ist örtlich zuständig für die Stadt Offenbach sowie die Kreiskommunen Dietzenbach, Heusenstamm, Mühlheim, Neu-Isenburg und Obertshausen.
Obwohl in Offenbach ebenso wie an kleineren Amtsgerichten – wie etwa in Langen oder Seligenstadt – die Justiz an vorderster Front kämpft, verfügen Präsidialgerichte über alle Fachabteilungen, verwalten ihr Budget selbst und haben, wie der Name sagt, ein Präsidium an der Spitze. Die kleineren Gerichte unterstehen dagegen den jeweiligen Landgerichten und werden von einem Direktor geleitet.
An der Kaiserstraße sitzen Straftäter auf der Anklagebank, wenn eine Strafe von nicht mehr als vier Jahren zu erwarten ist, am Zivilgericht werden Nachbarschaftsstreitigkeiten (Streitwert bis 5000 Euro) verhandelt, es geht um Betreuung, Nachlass, Grundbucheinträge, Insolvenzen, Zwangsvollstreckung und Zwangsversteigerung, Vereins- und Handelsregister. Nicht zuletzt hat man die Aufsicht über Schiedsleute und Ortsgerichte.
All das bewältigen 36 Richter und Richterinnen sowie noch einmal die gleiche Anzahl an Rechtspflegern und Rechtspflegerinnen, 100 Mitarbeitende im sogenannten Servicebereich, zu dem etwa die Schreibkräfte zählen, 14 Beschäftigte der Wachtmeisterei sowie 20 Gerichtsvollzieher/innen.

Die Personalsituation war in den vergangenen Jahren für Amtsgerichtschef Mohr und seine Stellvertreterin Petra Schott-Pfeifer eins der drängendsten Themen. Überlange Wartezeiten etwa bei Erteilung eines Erbscheins hatten dem Amtsgericht nicht gerade positive Schlagzeilen beschert. Mittlerweile sind die Missstände im Wiesbadener Ministerium angekommen. In den vergangenen Monaten kam zusätzliches Personal nach Offenbach, weiteres soll folgen. „Ich bin froh, dass das Thema Justiz in der Politik angekommen ist“, verweist Mohr darauf, dass das Land 500 neue Stellen in der hessischen Justiz schaffen will.
Vizepräsidentin Schott-Pfeifer betont die gute Vernetzung des Gerichts in die Stadt hinein: So kooperiert man bei verschiedenen Präventionsprogrammen, Stefan Mohr ist Vorsitzender des Fördervereins Sicheres Offenbach, die Gerichtsspitze nimmt regelmäßig an Behördenleitertreffen teil, es besteht ein guter Draht zur IHK, und zusammen mit der Stadt gehört man dem Netzwerk Vereinbarkeit von Beruf und Pflege an.
Das Amtsgericht gibt es offiziell seit 1879, Gerichtsstandort war Offenbach aber bereits seit 1823. Mit dem Gerichtsverfassungsgesetz von 1877 wurden Organisation und Bezeichnungen der Gerichte reichsweit vereinheitlicht. Zum 1. Oktober 1879 hob das Großherzogtum Hessen deshalb die Landgerichte auf, die bis dahin in den rechtsrheinischen Provinzen die Gerichte erster Instanz gewesen waren. So ersetzte das Amtsgericht Offenbach das Landgericht Offenbach. Landgerichte nannten sich fortan die den Amtsgerichten direkt übergeordneten Obergerichte. Das Amtsgericht Offenbach wurde dem Bezirk des Landgerichts Darmstadt zugeordnet.
Das historische Gebäude an der Kaiserstraße 16 wurde seit Ende des Zweiten Weltkriegs mehrfach saniert, zuletzt in den Jahren 2008 bis 2010. Einige Abteilungen mussten in dieser Zeit in das gegenüberliegende Gebäude Kaiserstraße 27 ausgelagert werden. Seit 2005 ist das Gericht Teil des Justizzentrums Offenbach, zu dem der Neubau an der Kaiserstraße 18 gehört. Er beherbergt die Offenbacher Zweigstelle der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Darmstadt sowie das Arbeitsgericht Offenbach.
Der historische Bau und der Neubau sind mit einem gläsernen Übergang an der Hospitalstraße verbunden. Der Neubau, im Dreieck zwischen Kaiser-, Rathenau- und Hospitalstraße entstanden, ersetzte ein marodes Amtsgebäude, in dem die Staatsanwaltschaft untergebracht war. Auf dem Areal stand einst das erste Offenbacher Krankenhaus.
Zu den großen Herausforderungen der nächsten Jahre gehört für die Gerichtsspitze die sukzessive Umstellung auf die digitale Akte, von der sie sich Erleichterungen erhofft. Derzeit füllen die Papierakten noch so viel Raum, dass Ausweichflächen bis hin nach Rüsselsheim gemietet werden müssen. Pläne, wonach ein Archiv im 2010 geschlossenen, denkmalgeschützten Abschiebegefängnis – dem einzigen in Hessen – eingerichtet werden sollte, das unmittelbar ans Gerichtsgebäude grenzt, hatten sich zerschlagen. (von Matthias Dahmer)