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Aus Ukraine nach Offenbach: Olena Marchenko schildert ihre Flucht - „Er gab uns 20 Minuten Zeit“

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Von: Veronika Schade

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„Die Tiere sind Teil meiner Familie“: Olena Marchenko mit ihrem Hund Johnny.
Die Ukrainerin hofft eines Tages in ihr Land zurückkehren zu können. Tiere helfen ihr durch die schwere Zeit. © Schade

Die vom russichen Angriffskrieg geflohene Ukrainerin Olena Marchenko lebt seit einem halben Jahr in Offenbach-Bieber. Eines Tages möchte sie zurück in ihr Heimatland.

Offenbach – Wenn sich die vier Katzen wohlig auf Bett und Stühlen zusammenrollen und der Hund Johnny mit treuem Blick seinen Kopf auf das Knie der Besucherin legt, strahlt es Ruhe und Frieden aus. Das Gegenteil von dem, was die Tiere und ihr Frauchen Olena Marchenko vor nicht allzu langer Zeit durchmachen mussten. Sie sind, zusammen mit Mutter Yuliya, vor dem Krieg in ihrer Heimat, der Ukraine, geflohen und leben seit einem halben Jahr in Offenbach.

Ihre Geschichte steht exemplarisch für so manches Schicksal von Flüchtlingen: Es ist die Geschichte einer dramatischen Flucht, der Ankunft in einem fremden Land, einem neuen Leben, das sich um 180 Grad gewandelt hat, in dem man plötzlich angewiesen ist auf Sozialleistungen des Staates und die Hilfsbereitschaft anderer. Und der Hoffnung, eines Tages wieder zurückzukehren.

Geflohene Ukrainerin Olena Marchenko: Der Krieg vertreibt die Bevölkerung

Olena Marchenko, 38 Jahre alt, arbeitete sieben Jahre als Dolmetscherin und Übersetzerin innerhalb von Trainingsprogrammen der kanadischen und amerikanischen Polizei, wechselte Anfang des Jahres zur Assistenz der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ). „Für meine ausländischen Kollegen und Freunde bin ich Helen, die Aussprache meines richtigen Namens ist zu schwer“, erzählt sie in fließendem Englisch.

Mit ihrer 73-jährigen Mutter und den fünf Haustieren lebte sie in Irpin, einem Vorort von Kiew. Die Stadt in der Region Butscha ist zum Sinnbild der Gräueltaten des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine geworden. Irpin und der nahegelegene Flughafen Kiew-Hostomel wurden zum Kriegsanfang Schauplatz erbitterter Kämpfe mit hunderten zivilen Opfern. Große Teile der Bevölkerung wurden evakuiert, die meisten Gebäude zerstört.

Der 24. Februar wird ihr für immer in Erinnerung bleiben. „Morgens sind wir nichts ahnend aufgewacht, am Abend haben wir im Keller gesessen und die schlimmsten Ängste durchlebt.“ Begonnen hat er mit einem Anruf des Krankenhauses, in das ihre herzkranke Mutter zur Untersuchung gehen sollte. „Sie sagten den Termin ab mit der Begründung, es herrsche Kriegsrecht.“ Sie sei zunächst eher irritiert gewesen als beunruhigt, ging mit dem Hund im Wald spazieren. Etliche Freunde und Bekannte aus dem Ausland hätten angerufen, um zu fragen, wie es ihr gehe. „Für mich war alles gut. Doch dann flogen plötzlich drei Kampfjets über meinen Kopf hinweg. Später hörte ich Explosionen.“

Szenen einer Flucht: Das Bild hat Olena Marchenko in Kiew aufgenommen als es einen Angriff gab.
Die Flucht nach Deutschland war begleitet von viel Angst und Verunsicherung. Sie führte durch verschiedene Orte. © p

Geflohene Ukrainerin Olena Marchenko zum Kriegsbeginn: „Ein normaler Tag, der in Panik endete“

Schnell macht sich im Ort Panik breit, die Menschen sollen in Kellern Schutz suchen. Da sie keinen Keller haben, kommt sie mit ihrer Mutter und vielen anderen Menschen in einem Schutzraum in der Kirche unter. „In der Nacht dort konnte niemand schlafen. Wir hörten ständig Explosionen, die Wände zitterten. Als wir raus schauten, war der Himmel orange. Alle hatten schreckliche Angst.“ Die meisten Angriffe zielen auf den Flughafen Hostomel – keine fünf Kilometer entfernt.

Am nächsten Morgen ist klar: Bleiben ist keine Option. Infrastruktur, darunter die wichtigste Verbindung nach Kiew, eine Brücke, wurde zerstört, um den russischen Einmarsch zu erschweren. „Anfangs war es das Ziel von Putin, Kiew so schnell wie möglich zu besetzen. Deshalb wurden die Vororte so stark angegriffen“, berichtet Olena. „Hätten wir gewartet, könnten alle Wege nach Kiew abgeschnitten sein, und wenn die Russen einmarschieren, ist alles zu spät...“ Da sie und ihre Mutter kein Auto haben, fleht sie ihren Nachbarn an, sie und die Tiere mitzunehmen.

Szenen einer Flucht: Das Bild zeigt den ersten Zufluchtsort in einem Kirchenkeller in Irpin.
Die Flucht nach Deutschland war begleitet von viel Angst und Verunsicherung. Sie führte durch verschiedene Orte. © p

Geflohene Ukrainerin Olena Marchenko: Flucht auf den letzten Drücker

Er hat selbst eine sechsköpfige Familie und einen Hund, willigt ein. „Er gab uns 20 Minuten Zeit, uns fertig zu machen. Die meiste Zeit davon dauerte es, die Katzen einzufangen. An Koffer packen war nicht zu denken, wir hatten unsere Kleider am Körper, unsere Dokumente und die Herztabletten von Mama. Und meinen Laptop zum Glück auch.“ Mit acht Menschen und sechs Tieren quetschen sie sich ins Auto, die Fahrt ins knapp 30 Kilometer entfernte Kiew wird zum Horrortrip: „Alles um uns herum war zerstört. Erst sind wir gerast, dann steckten wir im Stau. Die Kinder schrien, die Katzen miauten, Mama weinte und mir war einfach nur schlecht.“

In Kiew kommen sie bei einer Freundin in ihrer Wohnung im siebten Stock unter, verbringen jedoch die meiste Zeit in einem Schutzraum im Schulkeller: „Wenn wir raus wollten, und sei es nur zum Gassi gehen, ging es nur in Begleitung eines bewaffneten Schutzmanns. Und immer wieder gab es Alarm. Wenn man schlafen wollte. Wenn man essen wollte.“ Als sie das Angebot bekommt, vorübergehend bei Bekannten in der Westukraine unterzukommen, zögert sie erst – der Zug oder Bus könnte zum Angriffsziel werden. Doch sie entscheidet, es zu riskieren.

Geflohene Ukrainerin Olena Marchenko: Über Kiew in die Westukraine

Am Bahnhof dann das totale Chaos. Menschenmassen strömen zu den Zügen, rein schafft es nur, wer sich durchsetzt. „Ich hatte Plätze reserviert und irgendwie gelangten wir doch in einen Zug.“ Den Tieren will der Schaffner die Mitfahrt verweigern. Olena kämpft wie ein Löwe – und gewinnt: „Ohne meine Tiere, das käme niemals in Frage. Sie sind Teil meiner Familie.“ Jedes habe seine eigene Geschichte, sein besonderes Schicksal, die Katzen ebenso wie Hund Johnny, den sie aus dem Tierheim hat. „Er stammt aus der Ost-Ukraine, erlebte 2014 schon den damaligen Krieg.“

Als sie in Tschernopol ankommen, ist es wie in einer anderen Welt. „In den Geschäften gab es alles, die Menschen bewegten sich frei. Wir konnten endlich durchatmen.“ Doch dauerhaft zu bleiben, ist nicht möglich. Als die Nachricht kommt, das Haus in Irpin sei zerstört worden, schwindet die Hoffnung auf ein normales Weiterleben.

Ukrainerin Olena Marchenko flüchtet mit Verwandten nach Deutschland

Als entfernte Verwandte berichten, dass sie nach Deutschland fliehen wollen und im Auto noch Platz ist, schließen sie sich an. So gelangen sie über Polen nach Offenbach – zunächst in eine gemeinsame Wohnung, danach jede Familie für sich.

Die Menschen habe sie durchweg als freundlich und hilfsbereit erlebt, schwärmt Olena. „Nachbarn haben uns Kleider gebracht, Futter für die Tiere, und uns sogar eine Kaffeemaschine geschenkt.“ Doch es dauert Wochen, bis aller Papierkram erledigt ist, bis sie versichert und Teil des Systems sind. „Die Behörden arbeiten langsam, da ist so viel Bürokratie.“ Dass sie kein Deutsch kann, sei ebenfalls ein Hindernis gewesen. Mittlerweile besucht sie täglich einen Deutschkurs, will ein Niveau erreichen, das es ihr ermöglicht, bald eine Arbeit aufzunehmen. Ihre Arbeit für GIZ ist von Deutschland aus aus Steuergründen nicht möglich, das Arbeitsverhältnis ruht.

Szenen einer Flucht: Das Bild zeigt ihre Tiere in einem Hotel auf der Durchreise in Polen.
Die Flucht nach Deutschland war begleitet von viel Angst und Verunsicherung. Sie führte durch verschiedene Orte. © p

Geflohene Ukrainerin Olena Marchenko engagiert sich kurz nach der Flucht als Übersetzerin

Doch einfach nur Leistungen zu beziehen und nichts zu tun, ist nicht Olenas Art. Bei der Heusenstammer Tafel ist sie erst selbst Gast, hilft später mit. Und als sie Gabriele Türmer kennenlernt, Koordinatorin der Malteser Medizin für Menschen ohne Krankenversicherung (MMM) im Ketteler-Krankenhaus, muss diese sie nicht lange davon überzeugen, Teil des Teams zu werden.

Seitdem übersetzt sie dort bei der Sprechstunde jeden Mittwochnachmittag für die unkrainischen Patienten. „Da sind bewegende Schicksale“, erzählt sie. Etwa die Mutter mit sechs Kindern, die monatelang keine Versicherung hatte. Der Mann aus Mariupol, dessen Diabetes im Krieg nicht richtig behandelt wurde und der nun im Rollstuhl sitzt. „Es ist für mich eine Ehre, etwas für meine Landsleute tun zu können“, sagt die 38-Jährige.

Trotz Krieg: Der Wunsch nach der Heimat für Olena Marchenko bleibt bestehen

Sie vermisst die Ukraine, ihre Heimat. Sie vermisst es, ein unabhängiges Leben zu führen, nicht auf staatliche Leistungen angewiesen zu sein. Doch sie ist dankbar, überlebt zu haben und an einem sicheren Ort zu sein. In Bieber fühlen sich alle wohl.

Doch wieder ist die Zukunft ungewiss. Bis Ende Oktober müssen sie die Wohnung verlassen, sie war von vornherein nur zeitlich begrenzt gemietet. „Bisher haben wir noch nichts anderes gefunden. Das große Problem sind die Haustiere“, bedauert Olena. Dutzende Absagen hat sie schon bekommen. Maximal 60 Quadratmeter groß darf die Wohnung sein und bis zu 675 Euro Warmmiete kosten.

Olena Marchenko: „Wir wünschen uns sehr, in Bieber bleiben zu können“

„Wir wünschen uns sehr, in Bieber bleiben zu können. Doch wenn wirklich gar nichts klappt, bleibt uns wohl nur, zurückzukehren.“ Das ist, so betont sie, ohnehin ihr Ziel. „Doch erst, wenn die Situation stabil ist. Wenn man wieder gefahrlos dort leben kann. Noch ist es nicht soweit. Aber hoffentlich eines Tages. Dafür bete ich.“

Ein Stück Hoffnung ist jedenfalls zurückgekehrt. „Es war eine Fehlinformation, dass unser Haus zerstört worden sei. Es steht noch, ist nur leicht beschädigt. Wir haben Bilder bekommen“, freut sie sich. „Ein Happy End“. Dem hoffentlich weitere folgen... (Veronika Schade)

Geflüchtete aus der Ukraine im Kreis Offenbach. Das Deutsche Rote Kreuz Hausen freut sich deshalb über Kleiderspenden.

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