Journalist über Türkei-Wahl: „Menschen versuchen, einen Diktator zu stürzen“

Der türkische Journalist Aziz Tunç lebt als politischer Geflüchteter in Hanau. Für ihn entscheidet die Türkei-Wahl über das künftige Gesicht des Landes.
Hanau – Seit sieben Jahren wohnt der Schriftsteller Aziz Tunç in Hanau – wegen der politischen Situation in seiner Heimat, als Geflüchteter. Im Interview spricht er über einen radikalisierten Machthaber, die Stimmen der Auslandstürken und formuliert eine Botschaft an Deutschland.
Journalist über Türkei-Wahl: „Jahre voller Unterdrückung haben Gegenwehr entstehen lassen“
Herr Tunç, Umfragen sagen ein enges Rennen zwischen Präsident Recep Tayyip Erdogan und Herausforderer Kemal Kiliçdaroglu voraus – welchen Wahlausgang erwarten Sie?
Inwiefern diese Umfragen die tatsächliche Meinung in der Türkei widerspiegeln, kann man diskutieren. Ein erster Teil wird vom türkischen Staatsfernsehen erhoben, ist von Erdogan und der Regierung in Auftrag gegeben. Diese Erhebungen halte ich für absolut manipulativ, sie zeigen ein verfälschtes Bild. Ein zweiter Teil ist freier, entsteht aber unter extrem schwierigen Bedingungen. Deshalb sind auch diese Umfragen nur teilweise aussagekräftig. Ich bin der Meinung: Wenn man in der Türkei jetzt vollkommen faire und freie Wahlen abhalten würde, dann erhielte Erdogan nicht mehr als 25 bis 30 Prozent der Stimmen.
Wie kommen Sie auf diese Zahlen?
Bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 hat die AKP, Erdogans Partei, zum ersten Mal ihre absolute Mehrheit verloren. Schon diese Wahl war nicht komplett fair und frei, aber zumindest teilweise demokratisch. Die Abstimmung war dennoch ein Wendepunkt. Ich bin überzeugt: Bei allen darauffolgenden Wahlen hat Erdogan versucht, massiv Einfluss zu nehmen. Ein Beispiel: Die Kommunalwahl 2019 in Istanbul hat seine Partei verloren. Das Ergebnis wurde damals annulliert, die Abstimmung wiederholt. Nur war die Niederlage auch im zweiten Wahlgang so deutlich, dass Erdogan nichts anderes übrig blieb, als das Resultat zu akzeptieren.
Die Kurden unterstützen ihn nicht, die Aleviten unterstützen ihn nicht. Selbst ein Teil der Nationalisten steht mittlerweile nicht mehr hinter Erdogan, etwa sein ehemaliger Ministerpräsident Ahmet Davutoglu, der eine eigene Partei gegründet hat. Ich denke, die letzten 20 Jahre voller Korruption und Unterdrückung haben in der Bevölkerung eine Art Gegenwehr entstehen lassen.
Hanauer Journalist: „Erdogan hält das Zepter fest in der Hand“
Wie genau könnte Erdogan den Wahlausgang beeinflussen?
Erdogan hält das Zepter fest in der Hand. Er kontrolliert das Militär, die Polizei, die Justiz – die komplette Gewaltenteilung, die ein Land eigentlich demokratisch macht. Auch die Medien beherrscht der türkische Machthaber. Und er überwacht den hohen Wahlausschuss, die höchste Wahlbehörde der Türkei, die 2019 die Bürgermeisterwahl in Istanbul annulliert hat. Für die Menschen in der Türkei ist die Wahl am Sonntag kein politischer Akt, wie er in einer Demokratie üblich ist. Sie versuchen, einen Diktator zu stürzen, der alle Organe im Staat an sich gebunden hat.
In Deutschland waren in diesem Jahr 1,5 Millionen Türken zur Wahl aufgerufen – die größte Gruppe außerhalb des Landes. Wie wichtig sind die Stimmen aus Deutschland für den Wahlausgang?
Mit Sicherheit können wir sagen: Diejenigen, die in den Konsulaten abstimmen, deren Stimme wird effektiv sichtbar. Aus demokratischer Perspektive finde ich das wichtig. Trotzdem wäre es unglaubwürdig zu sagen, die Stimmen aus Deutschland entscheiden den Wahlausgang in der Türkei.
2018 erhielt Erdogan in Deutschland prozentual gesehen mehr Stimmen als in der Türkei. Warum?
Ich denke, die türkischen Auslandsvertretungen spielen dabei eine wichtige Rolle. Sie arbeiten direkt mit Moscheevereinen wie Millî Görüs oder Ditib zusammen. Deren Imame werden vom Staat gestellt und von Religionsattachées in den Konsulaten kontrolliert. Auch mit türkischen rechtsradikalen Gruppen wie den „Grauen Wölfen“ kooperieren die Auslandsvertretungen eng.
Rassismus und Diskriminierung, die die Türken in Deutschland tatsächlich erfahren, versucht die Regierung so für sich zu nutzen: Indem sie den Menschen das Gefühl gibt, für ihre Belange einzustehen. Erdogan wird als derjenige dargestellt, der den Islam und das Türkentum verteidigt. Es gibt da ein Paradoxon: Diejenigen, die in Deutschland eher linke Parteien wählen, um die eigenen sozialen Rechte zu stärken, stimmen drüben für Erdogan. Man muss trotzdem hinzufügen: Die Politik in Deutschland trägt eine Mitschuld, weil sie Erdogan zu viel Freiraum gelassen hat.
Entweder wird Erdogan eine dunkle Autokratie etablieren – oder er wird verschwinden
Wie nehmen Sie die Stimmung in der deutsch-türkischen Community wahr?
Ich vertrete eine klare Position, an der ich aktiv arbeite. Viele Menschen in Deutschland möchten, dass Erdogan seine Macht verliert – ich hoffe, dass die Wahlbeteiligung auch deshalb höher als gewöhnlich sein wird. Gleichzeitig sehe ich, dass AKP-Leute genauso aktiv sind, damit die Wahlen so ausgehen, wie sie es sich wünschen. Diese Wahl ist richtungsweisend: Entweder wird Erdogan eine dunkle Autokratie etablieren – oder er wird verschwinden. Auch an die deutsche Gesellschaft habe ich deshalb eine Botschaft.
Welche?
Es war nie mein Wunsch, in so einem hohen Alter ein Leben im Exil zu führen. Deshalb kämpfe ich für die Demokratie in meiner Heimat. Und das ist es, was Deutschland unbedingt verstehen sollte: Erdogans Regierung steht nicht für Normalität. Auch die Deutschen müssen klar Position beziehen und ihre Parteien dazu bewegen, es ihnen gleich zu tun. Denn mit einer Diktatur in der Türkei verliert auf lange Sicht jeder.
(Das Gespräch führte Julius Fastnacht; Übersetzung aus dem Türkischen: Erkan Pehlivan)
Zur Person
Aziz Tunç, 67, ist Schriftsteller und Journalist. Schon in seiner Jugend engagierte er sich in der Türkei politisch. 1978 erlebte er das Pogrom von Kahramanmaras, bei dem über 100 Aleviten, Angehörige einer Minderheit, ermordet wurden. Über das rechtsextreme Verbrechen sowie die anschließende Militärdiktatur in den 1980ern verfasste er mehrere Bücher.
Wegen seiner Arbeit für oppositionelle Zeitungen verbrachte Tunç Jahre auf der Flucht – und in Haft. Während dem vermeintlichen Putsch gegen Erdogan 2016 hielt er sich in Deutschland auf – und ist seitdem nie wieder in die Heimat zurückgekehrt. Heute lebt er als politischer Geflüchteter in Hanau, getrennt von Freunden und Familie.
Lesen Sie auch: Während des Telefonats stockt Mustafa Kaynak aus Hanau immer wieder die Stimme. Weil er so schrecklich nah daran ist. Weil das alles für ihn „unbeschreiblich ist“. Weil er fast permanent im Fernsehen die Nachrichten aus dem Erdbebengebiet in Südostanatolien verfolgt. Schließlich hat er Verwandtschaft in Kahramanmaras, einem der Epizentren des verheerenden Bebens in der Türkei.