Britisch-deutsche Autorin schreibt über ihren Offenbacher Großvater

„Wenn ich durch Offenbach gehe, fühle ich mich wie ein Geist“, sagt Pippa Goldschmidt. In schwarz-weißem Wollmantel steht sie – präsent und diesseitig – mitten in der Offenbacher Fußgängerzone vor der Frankfurter Sparkasse am Rathaus Plaza. Eigentlich hat es die Chronologie der Ereignisse so nicht vorgesehen; dass sie eines Tages hier ist, in der alten Heimatstadt ihres Großvaters. Ernst Goldschmidt war ein jüdischer Deutscher, der 1936 vor den Nazis fliehen musste und ein neues Leben in England begann.
Offenbach - Pippa Goldschmidt hat ihn nie kennengelernt, er starb, bevor sie auf die Welt kam. Jetzt schreibt sie ein Buch über ihn und ist zu Recherchen in die Stadt ihrer Vorfahren zurückgekehrt. „Die einzige Erinnerung an ihn ist ein altes Foto, das meine Großmutter in London in ihrem Bücherschrank stehen hatte.“ Es zeigte einen jungen Mann in deutscher Soldatenuniform.
Vergangenheit des Offenbacher Großvaters war in der Familie ein Tabuthema
„Mehr wusste ich nicht. In unserer Familie wurde nichts über ihn erzählt, nichts über die Zeit zwischen 1933 und 1945, nichts über den Nationalsozialismus und den Holocaust. Und als Kind habe ich gelernt, nicht nachzufragen, weil es für alle zu schmerzhaft war“, sagt die Autorin. „Ich wusste mehr über Albert Einstein, der ebenfalls ein deutscher Jude war, der zur selben Zeit lebte, der auch flüchtete, als über meinen eigenen Großvater.“
Die 53-Jährige blickt die rote Klinkerfassade mit dem leuchtenden Sparkassen-Schild hinauf. Sie ist in London geboren und aufgewachsen; sie arbeitete als Astronomin an Universitäten, dann fing sie an zu schreiben: einen Roman, Essays und Kurzgeschichten, in denen sich Wissenschaft und Literatur verweben. Die Idee, ein Buch über ihren Großvater zu schreiben, sich auf die Suche nach ihm zu machen, war keine spontane Entscheidung, sie erwachte langsam. Das Vorhaben wuchs zu einer Art Feldstudie; einem Versuch, eine mikrokosmische Ordnung wiederherstellen, indem sie einen entrissenen Teil ihrer Familiengeschichte zurückfordert.
Buch-Recherche in Offenbach
Pippa Goldschmidt wurde 1968 in London geboren und lebte lange Zeit in Edinburgh. Die Erzählungen, Gedichte und Essays der promovierten Astronomin erschienen in internationalen Publikationen, unter anderem der „New York Times“. Ihr erster Roman „Weiter als der Himmel“ (2012) handelt von einer Astronomin, die glaubt, die Urknalltheorie widerlegen zu können. Bisher sind drei Schriften von Pippa Goldschmidt im Verlag CulturBooks erschienen, zuletzt der Erzählband „Von der Notwendigkeit, den Weltraum zu ordnen“ (2018).
Momentan recherchiert Goldschmidt für ihr Buch über ihren Großvater Ernst Goldschmidt, der aus Offenbach stammte. Fotos vom Wohnhaus der Goldschmidts an der Kaiserstraße 32 werden noch gesucht, ebenso Zeugnisse, die die Geschichte des Hauses dokumentieren. Zuschriften leiten wir gerne an die Autorin weiter: kultur@op-online.de. Das Buch soll voraussichtlich 2023 erscheinen.
Am 7. Dezember, 19.40 Uhr, berichtet der TV-Sender Arte unter dem Titel „Auswandern oder bleiben - Londons jüdische Gemeinde und der Brexit“ über die Schriftstellerin.
„Ich habe mich jahrelang mit der Betrachtung von fernen Galaxien beschäftigt und dabei Milliarden Jahre in die Vergangenheit geschaut. Und dann habe ich mich gefragt, welche Erzählungen in der Geschichte des Universums verloren gehen. So habe ich angefangen, meine Familienfotos auf dieselbe Weise anzuschauen, wie ich Fotos vom nächtlichen Sternenhimmel betrachtet habe.“
Die Goldschmidts waren in Offenbach eine grundsolide jüdisch-deutsche Mittelklassefamilie
Vor zwei Jahren zog Goldschmidt nach Frankfurt. Zu dem Zeitpunkt hatte sie schon zwei Literaturstipendien in Deutschland absolviert und mit dem alten Pass ihres Großvaters die deutsche Staatsangehörigkeit beantragt. „Es war ein verrücktes Gefühl, herzukommen und mit einem Mal Deutsche zu sein.“ Regelmäßig war sie in den vergangenen Monaten im Offenbacher Stadtarchiv, sichtete mit Übersetzungshilfe der Mitarbeitenden Dokumente und Fotos.
„Wo wir jetzt stehen, an der Frankfurter Straße 45“, erzählt sie an diesem Vormittag in der Offenbacher City, „stand das Bankhaus Merzbach“. Ihre Urgroßmutter sei eine geborene Merzbach gewesen, die einen Goldschmidt heiratete und in die Kaiserstraße 32 zog. Dort wuchs der im Jahr 1897 geborene Ernst Goldschmidt als einer von drei Söhnen auf. „Es war eine typische, grundsolide jüdisch-deutsche Mittelklasse-Familie.“ Besonders religiös sei sie nicht gewesen.
1916 verließ Ernst die Schule, kämpfte an der Westfront. Mit einem Produzenten des TV-Senders Arte reiste Pippa Goldschmidt kürzlich zu Schauplätzen der Schlacht an der Somme, um zu sehen, wo ihr Großvater im Namen der Deutschen gekämpft hatte. Nach dem Krieg arbeitete Ernst Goldschmidt als Rechtsanwalt in Frankfurt, bis er 1935 auf Druck der Nazis seinen Job verlor. „Ich glaube, er konnte es gar nicht begreifen, was geschah, und er war enttäuscht darüber, was mit seinem geliebten Deutschland passierte.“
Nach der Flucht kehrte der Großvater mehrere Male nach Offenbach zurück
Ernst floh nach London, kehrte aber unter großer Gefahr noch mehrere Male nach Offenbach zurück und schaffte es, seine Mutter und seinen jüngsten Bruder nach England zu holen. Als dort die Angst vor Angriffen größer wurde, musste Ernst 1940 mit Hunderten deutschen, österreichischen und italienischen Geflüchteten, die als potenzielle Gefährder galten, in das Internierungslager auf der Isle of Man. Drei Monate verbrachte er dort, wie Pippa Goldschmidt aus einem Tagebuch ihres Großvaters erfuhr, das ihr Vater im Familienbesitz gefunden hatte.
Das Lager wurde als „Camp der Künstler“ bekannt, in dem trotz Gefangenschaft das künstlerische und intellektuelle Leben blühte. Auch ihr Großvater versuchte, das Beste aus seiner Situation zu machen, sagt die Autorin. „Überall sonst in Großbritannien waren die Küsten gesperrt, und mein Großvater schrieb darüber, wie schön es war, auf der abgelegenen Insel im Meer zu schwimmen.“
Ernst Goldschmidt starb 1963, er kehrte nicht in seine Heimatstadt zurück. Seine Enkelin sitzt nun in der Offenbacher Fußgängerzone und rührt in einem Milchkaffee. Ob sie so etwas wie Wut oder Trauer empfinde, wenn sie hier ist? „Ich habe mich gefragt, welche Wichtigkeit wir vergangenen Ereignissen im Universum geben. Alles im Heute kommt ja aus dem Gestern. Aber ich denke, man muss für sich selbst eine Balance finden. Ich möchte jedenfalls nicht in einer alten Version der Geschichte stecken bleiben.“