Aktionstag am 30. November: Frust in Kinderarztpraxen wegen Arbeitsbedingungen
Ein Aktionstag, um auf die schlechten Bedingungen in Kinderarztpraxen aufmerksam zu machen, ist am 30. November geplant. Auch in Stadt und Kreis Offenbach.
Offenbach – Am 30. November werden viele Kinder, Jugendliche und ihre Eltern vor geschlossenen Türen stehen, wenn sie zum Kinderarzt wollen. Oder eine Praxis vorfinden, die in absoluter Mindestbesetzung arbeitet – und aller Voraussicht nach werden sie weggeschickt, außer es handelt sich um einen echten Notfall.
Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) hat für den 30. November einen Aktionstag geplant, um auf die verschlechterten Bedingungen für die ambulante kinderärztliche Versorgung aufmerksam zu machen. Auch Pädiater in Stadt und Kreis Offenbach schließen sich an.
Frust in Kinderarztpraxen wegen geringer Bezahlung
„Klar ist, dass an diesem Tag unsere MFAs nicht arbeiten werden“, sagt der an der Kaiserstraße ansässige Kinderarzt Lutz Müller. Die Medizinischen Fachangestellten sind Dreh- und Angelpunkt jeder Praxis, ohne sie geht nichts.
Doch der Beruf ist chronisch unterfinanziert und die Arbeitsbelastung in den vergangenen drei Jahren erheblich gestiegen. Folge ist Personalmangel. Im Vergleich zu anderen Fachrichtungen brauchen kleine Patienten deutlich mehr Assistenz, weshalb der MFA-Mangel in Kinderarztpraxen besonders ins Gewicht falle.
Angespannte Personalsituation auch im Kreis Offenbach – Infektwellen überrollen Praxen
Zur angespannten Personalsituation komme gerade die Infektzeit hinzu, die in diesem Jahr heftiger als sonst ausfalle. „Wir werden von einer Infektwelle überrollt und dem Ansturm nicht mehr gerecht“, sagt der Neu-Isenburger Kinderarzt Jörg Brand. Das bestätigen seine Offenbacher Kollegen.
„Im normalen Alltag haben wir etwa 40 geplante Patienten am Tag und 40 Akutfälle. Derzeit sind es locker 80 bis 100 Akutfälle, die am selben Tag einen Termin wollen“, sagt Dimitra Hamm Le Clément Kasfiki, die mit ihrem Mann eine Kinderarztpraxis an der Berliner Straße führt. „Wir betreiben zurzeit eine Triage“, formuliert Müller. „Es geht darum: Wer darf da bleiben, wer muss gehen, wer kann später wiederkommen?“
Schlechtere Bedingungen in Kinderarztpraxen: Eltern zunehmend aggressiver
Das koste nicht nur Zeit, sondern auch Nerven. „Eltern werden zunehmend aggressiv, zeigen kein Verständnis für endliche Ressourcen, beschimpfen Mitarbeiter“, sagt Brand. Das Internet fülle sich mit unhaltbaren Vorwürfen und Anschuldigungen bezüglich telefonischer Erreichbarkeit, E-Mail-Rückmeldungen und überfüllter Akutsprechstunden. „Die Kollegen sind zunehmend frustriert und wissen nicht mehr weiter.“
Ähnliche Erfahrungen machen die Offenbacher. „Wir bekommen locker 150 E-Mails am Tag. Wenn wir nicht schnell genug reagieren, stehen die Leute vor der Tür. Es bilden sich Schlangen, und oft haben Patienten mit Termin das Nachsehen, weil sie sich trotzdem hinten anstellen“, bedauert Kasfiki. „Und ich will vermeiden, dass ein echter Notfall zu spät erkannt wird, nur weil er still wartet, während sich alle anderen vordrängen.“
Situation in Kinderarztpraxen: Corona-Pandemie habe Eltern verunsichert
Die Stimmung heize sich auch mal auf, wobei die Eltern in der Regel verständnisvoll und kooperativ reagieren, wenn man ihnen in Ruhe die Situation erkläre. Aber das nehme nun mal Zeit in Anspruch, die anderweitig fehle. „Das Problem ist, dass die Eltern einen extremen Druck von außen haben, den sie an uns weitertragen“, beobachtet die Kinderärztin.

Schule und Kindergarten würden Kinder sehr schnell bei banalen Krankheitssymptomen nach Hause schicken und mitunter ungerechtfertigterweise Atteste verlangen, damit das Kind zurückkehren kann. „Die Corona-Jahre haben für eine enorme Verunsicherung gesorgt – bei allen Beteiligten.“
Kindliche Infekte werden nach der Corona-Zeit „nachgeholt“
Dabei sei es völlig normal, dass in der Infektzeit im Herbst und Winter Kinder einen Infekt nach dem anderen hätten. „Wenn sie nur husten, aber ansonsten keine Atemprobleme haben und rosig sind, kann man ruhig ein paar Tage warten“, sagt Kasfiki. Die extreme Häufung der Infekte in diesem Jahr ist für Müller eine Nachwirkung der Corona-Maßnahmen.
„Das kindliche Immunsystem entwickelt sich, indem es ,übt‘. Es braucht Reize, die mangels sozialer Kontakte gefehlt haben.“ Jetzt würden die Infekte „nachgeholt“ – und Eltern und Einrichtungen darauf ziemlich hilflos reagieren.
Aufklärungsarbeit bei Eltern: Kinderärzte sind überlastet
Kasfiki und Müller sehen großen Aufklärungsbedarf, können sich vorstellen, Infoveranstaltungen anzubieten. „Vielleicht könnte die Volkshochschule eine solche Angebotsreihe ermöglichen“, so Müller. „Das wäre auf jeden Fall sinnvoller als ständig die gleichen Einzelgespräche.“ Auch aufs Phänomen „Dr. Google“ wolle er gern eingehen, wenn Eltern Symptome im Internet recherchieren und meinen, dem Arzt Diagnose und Behandlung vorgeben zu müssen.
Es sind also viele Dinge, die den Alltag der am Limit arbeitenden Kinderärzte erschweren. Und eine Besserung zeichnet sich nicht ab, im Gegenteil. Angesichts der Pläne des Gesundheitsministeriums – wie Streichung der Neupatientenregelung – und der Krankenkassen-Nullrunde fürchtet der Berufsverband eine weitere Verknappung ärztlicher Leistungen.
Versorgung für Kinder nicht mehr sichergestellt: Eltern suchen Termine
„Schon derzeit ist die flächendeckende Versorgung von Kindern und Jugendlichen nicht mehr sichergestellt. Eltern suchen verzweifelt nach Terminen für Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen. Ärztinnen und Ärzte stehen ob der vielen Patienten unter enormem Zeitdruck“, heißt es aus dem BVKJ.
Für die kleinen Patienten und ihre Eltern bedeutet das konkret: Kürzere Sprechzeiten, längeres Warten auf Termine, längere Wartezeiten in der Sprechstunde. Außerdem finden Neupatienten nur unter großen Schwierigkeiten eine kinderärztliche Betreuung. „Wir müssen in der Politik endlich Gehör finden“, begründet Müller die Notwendigkeit des Aktionstags am Mittwoch. Er selbst könnte seit Jahren in Rente sein. Doch noch wartet er damit, aus Verantwortungsgefühl. (Veronika Schade)
Eine sehr hohe Patient:innenzahl, knappes Personal und zu wenige Praxen gibt es in Offenbach. Kinderärztinnen und -ärzte arbeiten am Limit. Das Problem spitzt sich seit Jahren zu.