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In der Offenbacher Selbsthilfegruppe Al-Anon geben Angehörige sich gegenseitig Halt

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Von: Veronika Schade

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Da geht es zum Treffen: ln der Offenbacher Gruppe sind manche Mitglieder schon seit Jahrzehnten dabei.
Da geht es zum Treffen: ln der Offenbacher Gruppe sind manche Mitglieder schon seit Jahrzehnten dabei. © P

Alkoholismus ist ein Tabuthema. Verdrängt an den Rand der Gesellschaft. Dabei sitzt es fest in ihrer Mitte: Rund zwei Millionen Menschen in Deutschland sind alkoholabhängig, die Dunkelziffer ist deutlich höher. Mit ihrer Sucht zerstören sie nicht nur ihr eigenes Leben, sondern das ihrer ganze Familie.

Offenbach – So leiden geschätzt 12 Millionen Angehörige am übermäßigen Alkoholkonsum ihrer Partner, Eltern oder Kinder. Meistens still, um nach außen die Fassade einer heilen Welt aufrechtzuerhalten. Doch innen drin sieht es ganz anders aus.

Sabine Schmidt und Eva Müller (Namen von der Redaktion geändert) wissen genau, wie sich das anfühlt. Beide waren mit Alkoholikern verheiratet. „Er hat schon vor der Hochzeit getrunken, aber ich habe mir eingebildet, ich kriege das hin so nach dem Motto Problem erkannt, Problem gebannt“, berichtet Müller. Doch dem war nicht so. Als der gemeinsame Sohn sechs Jahre alt war, starb der Vater. „Er hat sich totgesoffen“, sagt sie heute unumwunden. Als junge Witwe mit 33 Jahren sei sie oft gefragt worden, ob ihr Mann an Krebs gestorben sei. „Das wäre etwas gewesen, das Mitleid verdient. Doch Alkohol als Grund, da reagieren die Menschen peinlich berührt.“

Auch Schmidt dachte, ihre Familie würde das in den Griff bekommen. „Mein Mann kam morgens betrunken von der Nachtschicht nach Hause. Ich sehe es noch vor mir, wie er mit dem Kopf in den Spaghetti hing.“ Während sie versuchte, die Familie mit zwei Kindern am Laufen zu halten und zugleich ihrem pädagogischen Beruf nachzugehen, versank das Haus in Dreck, der Schuldenberg wuchs. „Ich war gefangen in einem Karussell des Leugnens, wollte, dass alles perfekt ist.“ Irgendwann reichte die Kraft nicht mehr. Burnout, eine Essstörung und drei psychosomatische Therapien waren die Folge. „Dort sagte man mir, ich muss auch etwas für mich tun. Und ich dachte nur, wieso, ich trinke doch nicht.“ Sie hatte jede Selbstfürsorge verlernt. Mittlerweile weiß sie, dass es ohne sie nicht geht.

Ein wesentlicher Bestandteil dieser Selbstfürsorge ist für sie seit zehn Jahren der Besuch der Offenbacher Al-Anon Selbsthilfegruppe. „Dort stellte ich fest, dass es anderen Menschen genauso geht, fühlte mich zum ersten Mal gesehen, verstanden und ernst genommen.“ Obwohl sie nun schon lange von ihrem Mann getrennt ist, bleien die wöchentlichen Gruppentreffen für sie elementar: „Ohne sie würde ich ganz schnell wieder in schräge Verhaltensweisen verfallen.“ Denn nicht nur ihr Ex-Mann habe ein Alkoholproblem gehabt, sie sei auch familiär vorbelastet gewesen – was in vielerlei Hinsicht ihr Verhalten beeinflusst habe. Den Rückhalt der Gruppe zu spüren, ohne Scham erzählen zu können, auch mal in den Arm genommen zu werden, sei unglaublich wertvoll. „Es gibt mir das Gefühl, angekommen zu sein.“

Ähnlich geht es Müller. Auch sie hat Therapien hinter sich, als sie 1986 zur Al-Anon-Gruppe in Offenbach stieß. Seitdem will sie auf deren Beistand nicht mehr verzichten. Denn das Problem hat sich nicht einfach erledigt, sobald der Alkoholabhängige nicht mehr da ist: „Mein neuer Partner fühlte sich von mir kontrolliert. Ich war es gewohnt, dass ich alles selbst machen und mich kümmern muss. Ich kannte und konnte es nicht anders.“

Diese „Kümmerkrankheit“ ist typisch für Angehörige von Alkoholikern, weiß auch Schmidt. Der Kontrollzwang, das Überwachen des Süchtigen, die (sinnlosen) Versuche, ihn vom Trinken abzuhalten und das Bemühen, den Schein zu wahren, mische sich mit Schuldgefühlen gegenüber den Kindern, die am Ende doch alles mitkriegen. „Es ist, wie wenn ein Mobile ins Wanken gerät. Daran sind alle beteiligt, ob sie wollen oder nicht“, erklärt sie. Alkoholismus betreffe immer die ganze Familie. Heute können beiden Frauen mit ihren erwachsenen Kindern ehrlich über die vergangenen Zeiten sprechen, Schmidts Kinder haben noch Kontakt zum Vater. „Meine Tochter ist aber auch so eine Kümmerfrau geworden“, stellt sie fest.

Dass Alkohol für die meisten Menschen ein selbstverständlicher Bestandteil des Lebens ist, überall verfügbar ist und das Anstoßen zum guten Ton gehört, sei der Grund dafür, dass Alkoholismus als Gesellschaftsproblem verkannt werde. „Eigentlich ist das schizophren“, finden die Frauen. Sie selbst würden das Trinken zwar nicht komplett ablehnen, aber es nur selten tun – und auch nicht brauchen.

Corona hat den Alkoholkonsum in Deutschland erhöht – und die Al-Anon-Gruppe zu virtuellen Treffen gezwungen. Doch sie blieb bestehen, trifft sich seit einiger Zeit wieder persönlich. „Wir sind zurzeit sechs bis acht Leute von Mitte 20 bis 70. Jeder ist bei uns willkommen.“ (Von Veronika Schade)

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