Offenbacher Kultkneipe in Not: „Ausgehen ist Luxus“

Der Lokalbahnhof in Offenbach durchlebt schwere Zeiten. Sein Betreiber berichtet von den neuen Herausforderungen des Wirt-Daseins – und wie er ihnen begegnet.
Offenbach – Die Gäste im Lokalbahnhof in Offenbach sitzen rund um den braunen Holztresen. Zigaretten glimmen rot, Schälchen mit Erdnüssen stehen auf dem Tisch. Aus der dunkelgrünen Zapfanlage fließt das Bier in die Gläser, bis sich eine weiße Krone bildet. „Ist keine Frankfurter Sterbehilfe, sondern Bit“, sagt Holger Horns und lacht. Wenn das Geschäft immer so liefe wie an diesem Donnerstag, müsste er sich kaum Sorgen machen. Doch zuletzt verzeichnete Horns Umsatzeinbrüche von 30, 40 Prozent. Er glaubt: Die klassische Kneipe steckt in der Krise – mehr denn je.
Offenbacher Kneipe setzt auf Altersmix und gegenseitigen Respekt
Horns trägt ein blau besticktes Sakko, dazu einen schwarzen Hut. Er sitzt neben dem Tresen, nippt an seinem Bier, vor ihm eine Schachtel Zigaretten. Die Kultkneipe an der Bahnhofstraße hat er vor zwei Jahren übernommen, inmitten der Pandemie. Der Name – Am Lokalbahnhof – lässt die Gleisverbindung zwischen Offenbach und Sachsenhausen weiterleben, die es längst nicht mehr gibt. Die vielen Spiegel, die rot bezogenen Hocker, alte Bahnhofsschilder: „Das meiste habe ich gelassen, wie es ist“, so Horns.
Die Atmosphäre der Schankwirtschaft hat dem Wirt schon als Gast gefallen. „Wir haben eine gute Altersmischung, von 18 bis 80 ist alles dabei. Alles läuft auf einem gewissen Niveau, wir gehen respektvoll miteinander um.“ Und trotzdem: Der Sog auf Menschen wie früher, der fehlt dem Lokalbahnhof aktuell. „Die Kneipengeneration unserer Eltern gibt es so nicht mehr. Und ihre Trinkfrequenz haben die Youngster auch nicht“, fügt Horns mit einem Lächeln hinzu.
Früher sei mancher vom Papa mitgeschleppt worden, auch mal sonntags zum Frühschoppen. Warum das nicht mehr so ist? „Ein wesentlicher Grund ist der Social-Media-Kram“, denkt der 57-Jährige. Viele junge Leute lernen sich übers Internet kennen, sitzen freitagabends zuhause auf dem Sofa statt auf dem Polsterstuhl in der Kneipe.
Ukraine-Krieg beeinflusst Bierpreise
Dazwischengefunkt hat zuletzt das Weltgeschehen. Der russische Krieg in der Ukraine wirkt sich auf die Kaufkraft aus, auch in Deutschland. „Vielen Dank an das Putin-Schnitzel. Da kommt der Idiot um die Ecke und treibt die Inflation in die Höhe.“ Zwar sei nicht jeder plötzlich pleite, aber doch vorsichtiger, was den Geldbeutel angehe. „Viele denken: Wer weiß, vielleicht muss ich der EVO was nachzahlen. Und in die Kneipe gehen, um was zu trinken, ist Luxus – das fällt als erstes hinten runter.“
Im Einkauf legt der Lokalbahnhof selbst mehr für das Fass Bier hin, die Kosten für den Wareneingang sind laut Horns um bis zu 20 Prozent gestiegen. „Das kannst du aber nicht auf die Gäste umbiegen.“ Für ein großes Pils, 0,4 Liter, zahlen die Besucher 3,50 Euro. „Wenn ich das auf vier Euro anhebe, bleibe ich allein. Mache ich also nicht, obwohl ich es sollte.“
An Horns’ klarer Sprache, die ohne hessisches Weich auskommt, merken Zuhörer: Der Mann stammt aus dem Norden. Vor drei Jahrzehnten siedelte er aus Hamburg ins Rhein-Main-Gebiet über. Seine kaufmännische Ausbildung, Fokus Übersee-Handel, kommt ihm zupass, sagt er. „Wer nichts wird, wird Wirt? Das ist ein Spruch, den kannst du heute vergessen.“
„Für Wirte, die sich den sozialen Medien versperren, habe ich kein Verständnis“
Lebensmittelrichtlinien, Jugendschutz, Finanzvorschriften: „Eine Kneipe führt man mittlerweile wie ein Unternehmen. Du musst dich mit sehr vielem auskennen“, meint Horns. Und genau arbeiten. „Im Grunde ist jede Rindswurst zu verbuchen.“ Wichtiger denn je, in Zeiten wie diesen, ist das Marketing, betont er.
„Der Kampf um die Gäste geht los. Wer da keine Ideen hat, bleibt allein.“ Eine Handzettel-Aktion will der Kneipier starten, überlegt, Karaoke anzubieten. Regelmäßig veranstaltet der Lokalbahnhof Mottoabende, zum Start in den Mai gab es Bowle. Ein Foto davon prangte auf der Instagram-Seite der Gaststätte. „Für Wirte, die sich den sozialen Medien versperren, habe ich kein Verständnis. Ohne geht einfach nicht mehr.“ Seinen eigenen Sohn, der regelmäßig in der Kneipe aushilft, hat Horns dazu verdonnert, alle paar Tage einen Beitrag zu teilen.
Ganz solo, wie manch anderer Wirt, ist Horns nicht, sagt er zum Ende des Gesprächs. Alexander Frommen, Inhaber eines Offenbacher Glasbau-Unternehmens, hat als Partner Kapital in das Lokal gesteckt, rückt bei Bedarf für Reparaturarbeiten an. Und so, auch wenn Kneipe nicht mehr das ist, was es mal war, blickt Horns mit ein bisschen Freude auf den Spätsommer: Da steht der 25. Geburtstag des Lokalbahnhofs an. Horns plant, ein Hoffest zu veranstalten. „Wir stellen draußen den Grill auf – und die Zapfanlage.“ (Von Julius Fastnacht)
Kneipensterben in Deutschland
Kneipen sterben – und das schnell. Zumindest legt diesen Schluss eine Statistik des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbands nahe: 2019, vor Beginn der Pandemie, waren in Deutschland 28 808 Schankwirtschaften gemeldet. 2021, Zeitpunkt der letzten Erhebung, gab es nur noch 19 201 – ein Schwund von ziemlich genau einem Drittel. Zum Vergleich: Von 70 619 Restaurants im Jahr 2019 arbeiteten zwei Jahre später noch 61 827 – ein Rückgang von 13 Prozent.