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Mutter kämpft um Geld für behinderten Sohn – und steht kurz vor Privatinsolvenz

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Von: Veronika Schade

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Die Offenbacherin Erika Hahn mit ihrem Sohn Sascha.
Kämpft seit seiner Geburt um sein Wohl: Die Offenbacherin Erika Hahn mit ihrem Sohn Sascha. © Schade

Eine Mutter aus Offenbach kämpft für die Betreuung ihres behinderten Sohnes. Denn seit die AOK ihren Vertrag geändert hat, sieht sie sich kurz vor der Privatinsolvenz.

Offenbach – Ein festes Budget im Monat, das es Menschen mit Behinderung ermöglicht, selbst ihre Assistenten einzustellen und so ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu führen: Die Idee hinter dem sogenannten Arbeitgebermodell klingt sinnvoll. Und ist, wenn alles klappt, eine Entlastung für alle: den Betroffenen selbst, seine Familie, das Sozialsystem. Theorie und Praxis aber liegen mitunter weit auseinander.

So wendet sich eine verzweifelte Mutter an die Redaktion, die mit diesem Modell jahrelang ihren Sohn gut versorgt wusste. Doch seit ihre Krankenkasse den Vertrag geändert hat, reicht das Geld nicht mehr. „Ich stehe vor einer Privatinsolvenz“, klagt die Offenbacherin Erika Hahn.

Junger Mann aus Offenbach leidet an Gendefekt: Pflege ist Vollzeitjob

Doch der Reihe nach: Ihr Sohn Sascha leidet an einem angeborenen komplexen Gendefekt, dem sogenannten Di-George-Syndrom. Der heute 28-Jährige ist sowohl körperlich als auch geistig schwer behindert – unter anderem hat er einen Herzfehler und vermindertes Wachstum, ihm fehlen Nebenschilddrüsen und Thymusdrüse, was ihn sehr infektanfällig macht. Er muss durch eine Sonde ernährt werden, auch seine Atmung erfolgt über einen Zugang zum Hals, der regelmäßig von Sekreten gereinigt werden muss. Nachts ist er an einer Beatmungsmaschine angeschlossen, es muss regelmäßig abgesaugt werden. Zudem sind täglich Inhalationen sowie Massagen mit einem Gerät notwendig, das seine Muskeln anregt. „Er ist mein einziges Kind, aber manchmal habe ich gedacht, ich habe zehn Kinder“, beschreibt seine Mutter.

Seine Betreuung und Pflege ist ein Vollzeit-Job, dem sich die 61-Jährige seit seiner Geburt widmet. Als Kind besuchte Sascha die Fröbelschule, seit 13 Jahren ist er bei den Werkstätten Hainbachtal. „Ich arbeite fleißig“, teilt er mit, wirkt zufrieden. Auch dort braucht er einen Betreuer an seiner Seite. „Als ich alles allein gemacht habe, führten wir eine geradezu symbiotische Beziehung. Das war für mich nicht gut und für ihn auch nicht“, sagt Erika Hahn. „Die AWO konnte leider die intensive Betreuung, die Sascha braucht, nicht gewährleisten.“

Krankenkasse ändert Vertrag für jungen Mann in Offenbach: Geld reicht nicht mehr

Daher begrüßte sie es sehr, als die Krankenkasse ihr 2015 das Arbeitgebermodell vorschlug. Voraussetzung war, dass sie nicht zusammen wohnen. Sie mietete für Sascha eine eigene kleine Wohnung an der Neusalzer Straße, wo er rund um die Uhr einen Assistenten bei sich hat. „Insgesamt sind wir sechs Leute, die ihn pflegen“, berichtet sie. Monatlich stellte die AOK 15 .500 Euro zur Verfügung. Sascha gilt als Arbeitgeber, seine Mutter verwaltet das Geld und bezahlt damit die Löhne.

Das ging fast fünf Jahre gut, beide genossen das Stück gewonnene Freiheit und kamen finanziell aus. Doch im Dezember 2019 änderte die AOK den Vertrag. „Es wird jetzt ganz genau nach einer vorgegebenen Stundenzahl abgerechnet. Das reicht aber nicht“, so Erika Hahn. Vorher hätten sie zum Beispiel monatliche Meetings gehabt, um sich untereinander über Saschas Entwicklung auszutauschen. „Diese müsste ich jetzt mit meinem Privatgeld bezahlen.“ Sie wolle den Assistenten faire Löhne zahlen, da die Arbeit sehr viel Verantwortung und ständige Erreichbarkeit bedeute.

Was ist das Arbeitgebermodell?

Das Leben in einer eigenen Wohnung, ein Studium oder einfach mal ins Kino zu gehen, das ist für Menschen mit Behinderung, die nicht ohne Hilfe durch einen Pflegedienst oder Angehörige leben können, häufig ein Problem. Die persönliche Assistenz ist für diese Menschen eine Möglichkeit, unabhängig von einem Pflegedienst oder der Familie, selbstbestimmt leben zu können. Beim Arbeitgebermodell stellen sie ihre Helfer (Assistenten) selbst ein, sorgen für die nötige Einarbeitung und leisten auch den größten Teil der Verwaltungsarbeiten selbst.


Die Finanzierung der Arbeitsstellen wird gewöhnlich durch Krankenkassen, Pflegekassen und Sozialämter sichergestellt. Da weder Unternehmensgewinne, noch die im Pflegebereich enorm hohen Verwaltungskosten bezahlt werden müssen, können die somit eingesparten Gelder wiederum mehr Arbeitsplätze schaffen und die individuelle Pflegequalität verbessern. Rund 2000 assistenzbedürftige Menschen in Deutschland nutzen das Arbeitgebermodell.
Obwohl es diese Möglichkeit schon länger gibt, herrscht noch viel Unwissenheit darüber.

Offenbach: Verhältnis zur AOK schwierig, Anwalt hinzugezogen

Für sie selbst blieben am Monatsende nur noch 1400 Euro übrig. Da sie davon ihren gesamten Lebensunterhalt bestreiten müsse, stehe sie vor der Privatinsolvenz. Mittlerweile ist das Verhältnis zur Krankenkasse schwierig, ein Anwalt hinzugezogen. „Die AOK will sparen. Die wollen sogar, dass die Kanüle rauskommt, er brauche keine Beatmung mehr und soll essen lernen“, empört sich die Offenbacherin. „Die Ärzte sehen das ganz anders.“ Drei sozialmedizinische Gutachten innerhalb eines Jahres musste Sascha über sich ergehen lassen.

Den Sachverhalt anders sieht freilich auch die Krankenkasse. „Der Vertrag, der erstmalig 2015 geschlossen wurde, musste anlässlich neu gefasster rechtlicher Regelungen konkretisiert werden“, teilt ein AOK-Sprecher mit. Es habe sich nichts Wesentliches geändert. „Allerdings muss seitdem tatsächlich genauer dokumentiert werden, welche Pflege konkret erbracht wird.“ Der neue Vertrag sei über Monate mit Erika Hahn detailliert erörtert worden, sodass das Arbeitgebermodell ohne Unterbrechung in Anspruch genommen werden konnte. „Wir erstatten die Gehälter für die selbst beschaffte Pflege in Höhe der Stunden-Vergütungen, die zwischen den Pflegekräften und Frau Hahn arbeitsvertraglich vereinbart sind“, so der AOK-Sprecher.

Kostenersparnis statt Patientenwohl? Suche nach Lösung in Offenbach

Da Sascha auch Anspruch auf Leistungen anderer sozialer Träger habe, habe man ein sogenanntes trägerübergreifendes Budget empfohlen. Die Krankenkasse habe deshalb den überörtlichen Sozialhilfeträger, den Landeswohlfahrtsverband (LWV) Hessen, kontaktiert. „Dieser hat zwischenzeitlich einen Fachdienst vor Ort feststellen lassen, welche Leistungen möglich wären. Ein Fachdienst Pflege soll kurzfristig einbezogen werden“, heißt es aus der AOK. Danach sei die Umsetzung des trägerübergreifenden Budgets möglich. „Aus unserer Sicht stellt das für Familie Hahn eine sehr gute Lösung dar.“

Ein Prozess, der sich schon zu lange ziehe und nur Kostenersparnis statt Patientenwohl zum Ziel habe, findet Erika Hahn. Sie hat in ihrer Verzweiflung auch schon die Bundesregierung kontaktiert. „Wer krank ist, wird in diesem Land fallen gelassen wie eine heiße Kartoffel.“ (Veronika Schade)

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