Lesenlernen wie Leistungssport

Im Leistungssport geht es ums Durchhalten. Sich immer wieder zu motivieren, ein Ziel vor Augen zu haben, dranzubleiben, auch wenn es schwer fällt. Das weiß kaum einer besser als Fabian Hambüchen, Turn-Olympiasieger und Weltmeister am Reck. Doch er weiß auch, dass dies ebenso für ganz andere Lebenslagen gilt. „Wer als Erwachsener lesen und schreiben lernt, dem geht es ähnlich“, sagt er.
Offenbach - Gestern besucht der Sportstar und hessische Botschafter der Kampagne „Mach dich stolz! Trainiere Lesen und Schreiben“ das Grundbildungszentrum an der Offenbacher Volkshochschule (Vhs). Anlass ist der Weltalphabetisierungstag, der am 8. September begangen wird.
Rund 6,2 Millionen Menschen in Deutschland können nicht richtig lesen und schreiben, das entspricht 12,1 Prozent der Bevölkerung. Auf Offenbach umgerechnet sind es rund 11 000 sogenannte funktionale Analphabeten.
Im vergangenen Jahr haben 48 Männer und Frauen zwischen 19 und 64 Jahren die Angebote des Grundbildungszentrums wahrgenommen – Berufstätige ebenso wie Arbeitssuchende, mit und ohne Migrationshintergrund. „Sie kommen oft mit Zweifeln und Ängsten. Aber mit dem großen Wunsch, ihr Leben zu verbessern“, berichtet Dozentin Julia Röder. Oft werden sie vermittelt von sogenannten Multiplikatoren, also Stellen wie der Mainarbeit, aber auch Angehörigen. „Im Oktober beginnen wir mit der aufsuchenden Beratung“, sagt Koordinatorin Jennifer Haines-Staudt. Coronabedingt war vieles im vergangenen Jahr nicht möglich.
„In einem hoch entwickelten Industrieland darf man es sich nicht leisten, dass so viele Menschen nicht richtig am öffentlichen Leben teilhaben können“, sagt Hessens Kultusminister Alexander Lorz. Ihm selbst sei vor seiner politischen Laufbahn, als er als Universitätsprofessor gearbeitet habe, nicht klar gewesen, welche Ausmaße dieses Problem habe. „Man denkt, Deutschland hat ein funktionierendes Schulsystem, da passiert so etwas nicht.“ Umso wichtiger sei die Arbeit der Volkshochschulen. Hessenweit gibt es mittlerweile acht Grundbildungszentren. „Wir sind auf einem guten Weg.“
Bildungsdezernent Paul-Gerhard Weiß und Vhs-Leiter Dirk Wolk-Pöhlmann nutzen die Gelegenheit, um auf die Finanzierung des Angebots aufmerksam zu machen. Ende 2022 läuft die Projektförderung aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds und des Landes aus. „Aber auch danach muss das Angebot weitergehen“, betonen sie.
Wie sehr die Fähigkeit, lesen und schreiben zu können, das eigene Leben positiv beeinflusst, zeigt die Ausstellung „Lesen und schreiben öffnet Welten“, die bis 1. Oktober im ersten Stock des Vhs-Gebäudes an der Berliner Straße 77 zu sehen sein wird. An Schautafeln berichten Betroffene von ihren Erfahrungen. Zudem wird die Schau in verkleinerter Form auf Tour gehen mit Stationen in der Stadtbibliothek, Bürgerbüro und der Agentur für Arbeit.
Turnstar Hambüchen hat in seiner Funktion als Alphabetisierungs-Botschafter mit vielen Menschen gesprochen, die den Mut hatten, als Erwachsene nochmals lesen und schreiben zu lernen: „Sie sind wahre Vorbilder.“
Von Veronika Schade