Dunkelziffer psychisch kranker Kinder ist in Offenbach besonders hoch

Psychiater vermuten eine hohe Dunkelziffer von psychischen Erkrankungen in Offenbach durch die Bevölkerungsstruktur. Corona hat das noch verschärft.
Offenbach – Der Gedanke, dass ein neunjähriges Kind sich selbst umbringen will, ist kaum auszuhalten. Und dennoch gehört er zur Arbeit von Dr. Johanna Schilke und Dr. Thomas Manthey. Die beiden sind Kinder- und Jugendpsychiater und behandeln all die Fälle, bei denen Kinderseelen so krank sind, dass sie es ohne ärztliche Hilfe nicht mehr schaffen.
Überhaupt fällt auf, dass die Patienten mit psychischen Krankheiten immer jünger werden und etwa Depressionen mittlerweile schon gehäuft im Kindesalter diagnostiziert werden. Da gibt es etwa den 11-jährigen Offenbacher D., der erst vor kurzem seiner Mutter gesagt hat, dass es für alle besser wäre, wenn er nicht mehr leben würde. Oder S., eine neunjährige mit Essstörung, die so stark abgemagert ist, dass sie zwangseingewiesen werden musste.
Psychiatrische Erkrankungen bei Kindern: Offenbach besonders betroffen
„So schlimm sich das für Außenstehende auch anhört“, sagt Johanna Schilke. „Aber diese Fälle sind für uns Alltag.“ Und Corona habe die Lage insgesamt noch mal verschärft. „Viele Jugendliche, die ohne die Pandemie gerade haarscharf durch ihre Kindheit und Jugend geschrammt wären, landen nun bei uns“, sagt Manthey.
Besonders davon betroffen ist die Stadt Offenbach. Vor nunmehr einem Jahr hat Manthey die Sozialpsychatrische Praxis für Kinder und Jugendliche Offenbach an der Kaiserstraße eröffnet. Seit Beginn arbeitet an seiner Seite Johanna Schilke und ein siebenköpfiges Team. Sie stellen damit eine von zwei Praxen in der Stadt, während es im benachbarten Frankfurt oder der Landeshauptstadt Wiesbaden zahlreiche solcher Anlaufstellen gibt.
Psychisch kranke Kinder in Offenbach: Hohe Dunkelziffer vermutet
„Dort wohnt ein ganz anderes Publikum mit viel weniger Berührungsangst“, erklärt Manthey. „Aber genau deshalb sind wir ja nach Offenbach gegangen. Weil wir sehen, dass hier unsere Hilfe in besonderem Maße benötigt wird.“ Schilke erklärt das Grundproblem: „Vor allem sozialschwache und wenig gebildete Familien sind nur ganz selten bereit, ihrem Nachwuchs von einem Psychiater helfen zu lassen.“

Dennoch sind die Terminbücher der Praxis von Manthey und Schilke voll. Allerdings seien da vornehmlich junge Patienten etwa aus dem Frankfurter Nordend, aber auch aus Heusenstamm oder Dreieich dabei. „Ein psychisch krankes Kind aus dem Lauterborn sucht man bei uns vergebens, obwohl gerade dort die Dunkelziffer am allerhöchsten ist“, sagt Manthey. „Genau diesen Menschen wollen wir ja helfen, können es aber nur schlecht, weil sie gar nicht erst den Weg zu uns finden.“
Offenbach: Psychiater kooperieren mit Jugendamt
Diesen Weg wollen die beiden Psychiater nun ebnen und arbeiten deshalb direkt mit dem Jugendamt zusammen. Dort ist man von der neuen Kooperation begeistert. Denn die Zusammenarbeit mit Familien aus Kulturen, in denen der Gang zum Psychiater fälschlicherweise mit dem Begriff „verrückt“ assoziiert werde, sei schwer, sagt Bernd Hormuth, stellvertretender Leiter des Jugendamts. „Für diese Leute ist das wie ein Stempel.“ Doch davor wollten diese Eltern ihre Kinder schützen, obwohl diese eigentlich dringend Hilfe bräuchten. Und manche staatlichen Hilfen seien nach dem Gesetz überhaupt erst mit einer ärztlichen Diagnose möglich. Deswegen treibe man auch die Zusammenarbeit mit der psychiatrischen Praxis aktiv voran, etwa in Form von regelmäßigen Arbeitstreffen. „Das kennen wir von keiner anderen Praxis und sind froh, über diesen Austausch.“ So könnten gemeinsam bessere Lösungen im Sinne der Familien gefunden werden.
In der Praxis heißt das: Wendet sich eine Familie hilfesuchend ans Jugendamt, weil sich das Kind etwa zurückzieht oder auffällig ist, war man in vielen Fällen bisher gezwungen, die Kinder zur Abklärung in eine Frankfurter Praxis zu schicken. Doch da sei man, so Hormuth mitunter vielleicht gar nicht auf Patienten mit Sprachhürden oder kulturellen Berührungsängsten eingestellt. „Heute haben wir dagegen eine Anlaufstelle, bei der wir wissen, dass die Ärzte auf genau solche Probleme eingestellt sind“, sagt Hormuth. „Es ist eben spürbar, dass diese Praxis bewusst nach Offenbach gekommen ist.“ (Christian Reinartz)