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Gegen Ehrgewalt: Die Projekte „HeRoes“ und „SheRoes“

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Von: Veronika Schade

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Projektleiterin Fatmagül Tuncay im Raum von „HeRoes“ in Offenbach.
Projektleiterin Fatmagül Tuncay im Raum von „HeRoes“. Die jungen Männer haben ihn selbst gestaltet. © Schade

Mehr denn je wird seit einigen Jahren von Geschlechtergerechtigkeit gesprochen, ob in der Arbeitswelt, der Sprache oder im Haushalt. Fakt ist aber: „Das Ideal einer gleichberechtigten Gesellschaft bleibt ein Ideal“, sagt Fatmagül Tuncay, die beim Deutschen Roten Kreuz Offenbach das Projekt „HeRoes“ leitet. Sie weiß, was es heißt, in patriarchalen Strukturen aufzuwachsen, in denen der Weg für die Mädchen und Frauen der Familie vorgezeichnet ist. Brave Tochter, Ehefrau, Mutter – häufig in einer arrangierten Ehe. Platz für eigene Träume und Wünsche, einen längeren Bildungsweg bleibt da nicht.

Offenbach - Doch nicht nur sie leiden unter den Rollenzwängen und dem Druck – es macht auch etwas mit den jungen Männern. An sie richtet sich „HeRoes“. Dort lernen sie, ihr Männerbild zu hinterfragen, sich gegen die Unterdrückung im Namen der Ehre und für die Gleichstellung von Frauen und Männern einzusetzen. Kein leichter Schritt für jemanden, der damit aufgewachsen ist, „der Mann im Haus zu sein“. Doch „HeRoes“ arbeitet nicht mit erhobenem moralischen Zeigefinger. Im Gegenteil. Es sind die jungen Leute selbst, die sich auf freundschaftlicher Ebene – mit Lachen und Spaß – annähern und miteinander ins Gespräch kommen, mit Rollenspielen ernste Themen aufgreifen und sich vielleicht sogar trauen, über sensible Dinge zu sprechen, die sonst tabu sind. „Das kann die eigene sexuelle Orientierung sein“, so Tuncay, „aber etwa auch, die weibliche Periode zu verstehen.“ Häufig geht es um Extremismus, mit dem sie leider allzu leicht durch verschiedene Gruppierungen in Kontakt gerieten.

Gewalt im Namen der Ehre ist weit verbreitet

Von ständiger Überwachung, Bewegungseinschränkungen und Kontaktverboten bis hin zu schwerer Misshandlung und sogar Mord – Gewalt im Namen der „Ehre“ kann viele Formen annehmen. Sie fußt auf im Familiensystem und im sozialen Umfeld verankerten patriarchalen Normen. Viele Betroffene haben die Beschränkung ihrer Freiheits- und Selbstbestimmungsrechte verinnerlicht, geraten aber im Laufe ihres Lebens in Konflikt damit und fühlen sich zwischen der Loyalität zu ihrer Familie und ihrem eigenen Weg hin- und hergerissen. Die sogenannte Ehrgewalt ist ein weit verbreitetes Phänomen. In einer bundesweiten Umfrage berichteten teilnehmende Beratungsstellen von mehr als 3 400 Anfragen bezüglich Zwangsverheiratung innerhalb eines Jahres. In Hessen unterstützen die Träger im Netzwerk „Hessen gegen Ehrgewalt“ 2019 und 2020 insgesamt 440 Betroffene verschiedener Formen von Ehrgewalt.

Die Teilnehmer, vom Teenageralter bis hin zu jungen Erwachsenen Mitte 20, sind freiwillig dabei. Einige haben durch einen Workshop am der Schule von dem Projekt erfahren, andere von Freunden oder in sozialen Medien. Jeden Mittwoch Nachmittag treffen sich die Jungs, wie Tuncay sie liebevoll nennt, beim DRK an der Herrnstraße. Ihren Raum haben sie selbst gestaltet, Bilder von gemeinsamen Aktivitäten aufgehängt, aber auch der Opfer des Attentats von Hanau. Auf einer Couch können sie lässig abhängen, die Atmosphäre lädt ein, sich zu öffnen. „Sie sind in einem vulnerablen Alter, ihre Identität formt sich. Dabei unterstützen sie sich gegenseitig“, erläutert die Projektleiterin. Wichtig sei es, sie nicht als potenzielle Täter von Ehrgewalt zu behandeln, sondern als individuelle Persönlichkeiten, die in patriarchale Strukturen hineingeboren sind und denen es gelingen kann, diesen Lebensentwurf für die nächsten Generationen zu dekonstruieren. „In der Gruppe begegnen sie sich auf Augenhöhe und lernen, eine Vielfalt an Meinungen zu respektieren. Oder auszuhalten.“

„HeRoes“ läuft seit sieben Jahren in Offenbach als einziger Projekt-Stadt in Hessen. Finanziert wird es vom Land im Kontext der Gewaltprävention. Bisher wurden in drei Jahrgängen 22 junge Männer als Multiplikatoren zertifiziert, sie geben mit theaterpädagogischen Mitteln Workshops an Schulen. Die vierte Generation umfasst zehn Teilnehmer und befindet sich in der Qualifikationsphase. 2021 wurden in 52 Workshops rund 607 Heranwachsende erreicht.

Zudem gibt es im ganzen Rhein-Main-Gebiet innerhalb des Netzwerks „Hessen gegen Ehrgewalt“ Beratungsstellen für Opfer von Ehrgewalt und Zwangsheirat, in Frankfurt bietet das FeM-Mädchenhaus Notunterkünfte an.

Anfang des Jahres startete mit „SheRoes“ das weibliche Pendant zum Projekt. Die Gruppe besteht derzeit aus bis zu 15 jungen Frauen zwischen 16 und 25 Jahren. „Der Bedarf an Empowerment für die Mädchen ist riesig“, weiß Tuncay. In einzelnen Fällen seien Lehrer an sie herangetreten, weil ihre Schülerinnen von Gewalt oder arrangierter Ehe betroffen waren.

Für Mädchen sei es besonders schwer, sich den Strukturen entgegenzustellen. „Sie erleben den Familienzusammenhalt ja auch als etwas Schönes, haben sich somit eine hohe Schmerztoleranz angeeignet“, erläutert die Expertin. Zugleich wollten sie nicht das Klischee eines unterdrückten muslimischen Mädchens nähren. Eins allerdings hätten alle gemeinsam: „Ihre Weiblichkeit war für sie immer mit Scham verbunden.“

Die Mädchen sollen erkennen, dass sie ein selbstbestimmtes Leben führen dürfen. Sich trauen, eigene Wege zu gehen, wenn sie in ihrer vorgegebenen Rolle unglücklich sind. Die „SheRoes“ und „HeRoes“ treffen zuweilen auch aufeinander. „Das sind immer sehr spannende und erkenntnisreiche Gespräche für beide Seiten“, schildert Tuncay.

Beispiel: Sowohl Mädchen als auch Jungs sollten aufschreiben, wie sie ihr Leben in zehn Jahren sehen, wenn alles ideal verlaufen würde. Während die jungen Männer Dinge aufschrieben wie „Ich bin Krypto-Millionär“ und „Mir gehört ein Flughafen“, schrieben die jungen Frauen „Ich kann alleine sicher reisen“ oder „Ich darf mich kleiden, wie ich will.“ Ein riesiger Kontrast. „Die Jungs denken ganz groß, während die Träume der Mädchen ihren unmittelbaren Alltag betreffen. Sie speisen sich aus ihrer Unterdrückung“, interpretiert die Projektleiterin. Noch gibt es also viel zu tun...

Von Veronika Schade

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