Trotz Corona immer durchgeprobt: Oratorienchor aus Offenbach erfindet sich neu

Auch wenn es im Probenraum stumm bleiben musste, hat sich der Oratorienchor aus Offenbach weiter getroffen. Nun kommt das geprobte endlich auf die Bühne.
Offenbach – Corona hat so manches Umdenken erfordert. Dazu gezwungen, ausgetretene Pfade zu verlassen – erst recht, wenn das, was man normalerweise tut, in dieser Form nicht mehr möglich ist. So erging es vielen Chören und Gesangvereinen: auf einmal war es verboten, sich zu treffen, miteinander zu singen. Einige sind daran zugrunde gegangen. Andere haben sich neu erfunden, sind sogar gestärkt daraus hervorgegangen. Wie der Offenbacher Oratorienchor.
Gerade erst hatte im Februar 2020 mit Judith Bergmann eine neue Dirigentin den Chor übernommen, da kam der erste Lockdown. „Wir hatten eigentlich gar keine Gelegenheit, uns richtig kennenzulernen“, blickt sie zurück. Dass die normalen Proben im Paul-Gerhardt-Haus der Mirjamgemeinde nicht würden stattfinden können können, stand schnell fest. Gleichzeitig aber auch, dass Nichtstun keine Option ist. „Wir haben durchweg montags geprobt“, sagt Vorsitzende Cordula Uischner-Peetz nicht ohne Stolz.
Der Versuch, gemeinsam per Videokonferenz zu singen, bewährte sich nicht. Dafür hatte Bergmann die Idee, Einzelstunden von jeweils 30 Minuten am Telefon oder online anzubieten. Aus anfänglicher Skepsis wurde bald Begeisterung. „Welcher Chorleiter lernt sonst jeden seiner Leute einzeln kennen, kann sich ganz individuell seiner Stärken und Schwächen annehmen und miteinander ins Gespräch kommen?“, beschreibt Schriftführerin Iris Franke die Vorzüge. Sie übernimmt die Organisation der Proben, erstellt farbige Tabellen, wer wann dran ist. Die individuelle Förderung kommt bei den Chormitgliedern bestens an, obgleich einige abspringen. „So zwölf bis 14 haben regelmäßig mitgemacht“, erinnert sie sich.
Oratorienchor aus Offenbach: „Regenschirmprobe“ zaubert Lächeln ins Gesicht
Als im Sommer 2020 die ersten Lockerungen eintraten, probte der Chor wieder in Präsenz, und zwar an der frischen Luft und mit Abstand. Unvergessen ist die „Regenschirmprobe“, die den Beteiligten noch immer ein Lächeln aufs Gesicht zaubert. „Manchmal haben wir mit den Nachtigallen um die Wette trilliert“, schmunzelt Uischner-Peetz. Im Park wären immer wieder Leute stehen geblieben, hätten den Proben gelauscht. „Es ist ein ganz anderes Umfeld als der Proberaum“, sagt sie. Das habe sich, wie vieles, was in der Coronazeit zunächst unlösbar schien, am Ende als Bereicherung erwiesen. „Man hört auf einmal anders, nimmt sich anders wahr.“ So hätten sie wertvolle Erfahrungen gesammelt, neue Klangräume erschlossen.
In den Proberaum zurückkehren darf der Chor im Mai vergangenen Jahres – unter Auflagen und stets mit der Ungewissheit, wie es weitergeht. Wann das bereits für 2020 geplante Filmmusik-Konzert stattfinden kann, wann man überhaupt wieder auf der Bühne steht. Immerhin gibt es Auftritte in kleiner Besetzung auf dem Weihnachtsmarkt, beim Kranlauf am Hafen und eine Adventsdarbietung im Paul-Gerhardt-Haus. Bei den Proben sind längst nicht alle Mitglieder dabei. „Teilweise waren wir nur zu fünf. Und unsere Männer sind uns ganz abhanden gekommen“, erinnert sich die Vorsitzende. Doch auch wenn einige Mitglieder nicht zurückkehren, behält der Chor insgesamt seine alte Stärke: „Es sind dafür auch welche neu hinzugekommen in der Zeit. Sie sind aus anderen Chören zu uns gewechselt, weil bei ihnen nicht geprobt wurde und sie Sehnsucht nach dem Singen hatten.“ Derzeit hat der Oratororeinchor rund 20 Aktive zwischen 33 und 79 Jahren, würde sich dennoch über weitere freuen, vor allem Tenor und Bass sind gefragt.
Traditionsreich und doch modern: Der Offenbacher Oratorienchor
Der Offenbacher Oratorienchor ist einer der traditionsreichsten Chöre Deutschlands. Seine Gründung als „Sängerverein“ geht auf das Jahr 1826 zurück. Sein Repertoire reicht vom Mittelalter über Klassik und Romantik bis zur Neuzeit, vom Minnelied über Oratorien, Opern, Gospels bis zum Pop.
Mit seinen unkonventionellen Aufführungen hat er sich im gesamten Rhein-Main-Gebiet in den vergangenen Jahren einen Namen für spannende Musikprojekte ersungen. Dabei verbanden sich stets Chor-Musik, Literatur und Darstellende Kunst zu einem Gesamtkunstwerk auf hohem Niveau sowie ungewöhnliche Konzepte (unter anderem szenische Aufführungen von Glucks „Orpheus und Eurydike“, Carl Orffs „Carmina Burana“, von Bancieri eine italienische Madrigalkomödie „Pasticcio veneziano“, Händels Oper „Acis und Galatea“ und eine Belcanto Operngala) und oratorischen Aufführungen („Weihnachtsoratorium“, „Messiah“, „Schöpfung“ und viele mehr).
Geprobt wird montags von 20 bis 22 Uhr im Paul-Gerhardt-Haus der evangelischen Mirjamgemeinde, Lortzingstraße 10. Ein Schwerpunkt dabei ist die Stimm- und Atemschulung.
www.offenbacher-oratorienchor.de
Oratorienchor aus Offenbach: Veränderung durch neue Dirigentin
Dirigentin Judith Bergmann macht aus jeder Situation das Beste, ließ einige Sopranistinnen zur Alt-Stimme wechseln, legt generell viel Wert auf Stimmbildung. Und auch sonst hat sie dem Chor eine echte Frischekur verpasst. Sie scheut sich nicht vor ungewöhnlichen Klängen in ungewöhnlichen Besetzungen. Ob Stücke der isländischen Sängerin Björk („eine Herausforderung“) oder „Sound of Silence“ in der „harten“ Version – das Repertoire ist breit gefächert. „Wir wollten Veränderung, haben deshalb Judith engagiert. Und wir haben Veränderung bekommen“, freut sich Uischner-Peetz, die seit 1974 dem Chor angehört.
Eigentlich, findet sie, passe der Name „Oratorienchor“ gar nicht mehr so richtig, denn der Fokus liege mittlerweile viel stärker auf modernen Stücken statt auf geistlichen. Andererseits sei der Chor auch seiner fast 200-jährigen Tradition verpflichtet. „In letzter Zeit ändert sich so viel, da will so etwas wie eine Namensänderung wohlüberlegt sein.“ Der Name müsse passen und alle Aspekte beinhalten. Den zu finden, ist eine echte Herausforderung und ein längerer Prozess.
Voller Motivation will der Chor auch darüber hinaus neue Ideen verwirklichen, wie etwa musikalische Stadtspaziergänge anbieten. Jetzt steht aber zunächst ein anderes großes Ziel im Fokus: Am Freitag, 1. Juli, holt der Chor endlich sein lang aufgeschobenes Filmmusik-Konzert nach, und zwar um 19.30 Uhr im Bücherturm der Stadtbibliothek.