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China rüstet auf, Russland schwächelt: Putin droht Verlust von Wladiwostok

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Von: Sven Hauberg

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Chinesische Soldaten bei einer Übung in der Provinz Xinjiang
Chinesische Soldaten bei einer Übung in der Provinz Xinjiang (Archivbild): Das Land rüstet seit Jahren militärisch auf. © Xinhua/AFP

Der Ukraine-Krieg hat Russland geschwächt. Nutzt Peking die Gunst der Stunde und holt sich Wladiwostok zurück? Manch einer in China fordert das seit Jahren.

München/Wladiwostok/Peking – Reklame kann manchmal nach hinten losgehen, auch in China. Ende April warb eine russische Tourismusorganisation in Chinas sozialem Netzwerk Weibo mit den kulinarischen Reizen der Stadt Wladiwostok. Die Pazifikmetropole im äußersten Osten Russlands sei vor Kurzem zu einer der Gourmet-Hauptstädte des Landes gewählt worden, war in dem Post zu lesen. Belegen sollten das Bilder von Kaviar, Fisch und anderem Meeresgetier. Doch statt den Appetit der Weibo-Nutzer anzuregen, hagelte es böse Kommentare. „Gebt uns unser Land zurück“, schrieb ein Nutzer. Ein anderer forderte: „Sie haben meine Landsleute getötet und unser Land besetzt. Die Russen müssen bestraft werden!“ Und ein dritter Nutzer postete schlicht ein Messer-Emoji.

Die Überzeugung, die Stadt Wladiwostok und weitere Gebiete im Osten Russlands seien eigentlich ein Teil Chinas, ist tief verwurzelt in der chinesischen Bevölkerung. Immer wieder werden in Chinas sozialen Netzwerken Forderungen laut, im Nachbarland einzumarschieren und sich von Russland „gestohlene“ Ländereien zurückzuholen. Es sind Forderungen, die angesichts des russischen Einmarschs in der Ukraine neue Brisanz erhalten.

Chinas Ansprüche auf russische Gebiete haben eine lange Geschichte

Chinas Ansprüche auf Wladiwostok und weitere Gebiete im Osten Russlands gehen auf die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück, eine Zeit, die sich als Ära der tiefen Demütigung tief eingebrannt hat in Chinas historisches Gedächtnis. Britische Händler hatten damals weite Bevölkerungsteile des Qing-Kaiserreichs abhängig gemacht von Opium aus ihren indischen Kolonien. Als sich die chinesische Regierung zu wehren begann und tonnenweise Opium vernichten ließ, reagierte Großbritannien mit einer Strafaktion, die in den ersten Opium-Krieg (1839-1842) mündete. Das völlig unterlegene chinesische Kaiserreich hatte den fortschrittlichen Waffen der Briten wenig entgegenzusetzen und erlitt schließlich eine verheerende Niederlage. Im Vertrag von Nanking musste das geschwächte China mehrere Städte für den Handel mit dem Vereinigten Königreich öffnen und die Insel Hongkong an die Briten abtreten.

Nach dem zweiten Opium-Krieg (1856-1860), den die Briten zusammen mit Frankreich unter einem Vorwand vom Zaun gebrochen hatten, legten sie nicht nur den kaiserlichen Sommerpalast in Peking in Schutt und Asche. Sondern sie drängten die Chinesen auch zu weiteren Zugeständnissen. Hier kommt Russland ins Spiel: Das Zarenreich hatte sich früh in den Krieg eingemischt, aufseiten der Westmächte und gegen seinen chinesischen Nachbarn. Als China auch diesen Krieg verloren hatte, sahen die Russen ihre Chance gekommen – und rissen sich in Chinas Nordosten Gebiete von der dreifachen Größe Deutschlands unter den Nagel.

Besiegelt wurde der Landraub in zwei „ungleichen“ Verträgen, die China zähneknirschend unterzeichnen musste. Auch ein Provinznest, das die Chinesen Haishenwai – „Seegurkenbucht“ – nannten, war auf einmal russisch. Die neuen Herren gaben dem Ort einen Namen, der ihre Machtansprüche unterstreichen sollte: „Beherrsche den Osten“ – auf Russisch: Wladiwostok.

Sind Chinas Gebietsansprüche wirklich vom Tisch?

Das mit den Opium-Kriegen begonnene „Jahrhundert der Demütigungen“ endete erst 1949 mit der Gründung der Volksrepublik China und hat tiefe Wunden hinterlassen im kollektiven Bewusstsein der Chinesen. Einige dieser Wunden sind mittlerweile verheilt, vor allem die Rückgabe der einst britischen Kronkolonie Hongkong an China vor 25 Jahren war Balsam auf die chinesische Volksseele. Aus Sicht vieler Chinesen ist die Russland-Frage aber weiterhin offen. „Es wäre naiv zu erwarten, dass die chinesische Öffentlichkeit die Rolle des Russischen Reiches bei der Ausplünderung Chinas vergisst“, sagte die China-Expertin Una Aleksandra Bērziņa-Čerenkova von der Stradins-Universität im lettischen Riga dem Münchner Merkur von IPPEN.MEDIA.

Über Jahrzehnte hatte es immer wieder Streitigkeiten um den genauen Verlauf der mehr als 4.000 Kilometer langen Grenze zwischen den beiden Staaten gegeben, die 1969 sogar in einen militärischen Konflikt mündeten. Bērziņa-Čerenkova allerdings weist darauf hin, dass es heute keine chinesischen Gebietsansprüche an Russland gibt. Im Juli 2001 hatten der russische Präsident Wladimir Putin und Chinas damaliger Staats- und Parteichef Jiang Zemin in Moskau einen Freundschaftsvertrag unterzeichnet, in dem der Verzicht auf jegliche Ansprüche ausdrücklich festgehalten wurde. Nur zwei Jahre später allerdings legte Chinas Staatliches Büro für Vermessung und Kartierung fest, dass auf offiziellen Karten mehrere russische Städte zwingend mit ihrem chinesischen Namen bezeichnet werden müssen – also Haishenwai statt Wladiwostok. So ganz will man offenbar auch in Peking nicht akzeptieren, dass die Stadt heute russisch ist.

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China rüstet auf – Russland schwächelt

Der Sicherheitsexperte Jan Kallberg glaubt, dass die chinesischen Gebietsansprüche noch lange nicht vom Tisch sind. „Die Kommunistische Partei Chinas hat ein langes Gedächtnis“, schreibt Kallberg in einem Beitrag für die US-Denkfabrik Center for European Policy Analysis (CEPA). Immer wieder habe China den Briten oder den Japanern ihre Kolonialgeschichte in China vorgehalten. Da scheine es schwer zu glauben, dass ausgerechnet Russland einen „Freifahrtschein“ bekomme. Noch mache China mit den Russen zwar gemeinsame Sache, um eine Allianz gegen die weltweite Vormachtstellung der USA und anderer westlicher Demokratien zu bilden und billig Öl und Gas aus Putins Riesenreich zu beziehen. Auf lange Sicht aber sei Russland auf dem absteigenden Ast. „Wenn sich die derzeitigen Trends fortsetzen, kann China davon ausgehen, dass ihm seine alten Gebiete eines Tages in den Schoß fallen werden“, sagt Kallberg. „Vorerst kann Wladiwostok unter russischer Flagge weiterbestehen, in der Gewissheit, dass es eines Tages höchstwahrscheinlich wieder zu Haishenwai werden wird.“

China-Expertin Bērziņa-Čerenkova glaubt hingegen nicht, dass die Volksrepublik die Schwäche Russlands ausnützen werde. Schließlich sei das Land bereits in genug Gebietsstreitigkeiten verwickelt, etwa im Südchinesischen Meer, wo sich China mit anderen Staaten der Region um einige Inseln und Atolle streitet. „Da wäre es eine schwerwiegende Fehlkalkulation, eine weitere Front zu eröffnen“, sagt sie. Gleichzeitig rüstet China allerdings militärisch massiv auf. 2021 gab Peking laut dem schwedischen Friedensforschungsinstitut SIPRI geschätzte 293 Milliarden US-Dollar für seine Volksbefreiungsarmee aus, 4,7 Prozent mehr als im Jahr zuvor.

Auch Russland rüstete 2021 massiv auf, gab damals schätzungsweise 63,5 Milliarden Dollar für sein Militär aus. Seitdem aber hat der Ukraine-Krieg zu massiven Verlusten in Russlands Armee geführt; das Land hat wohl Zehntausende Soldaten sowie massenhaft Kriegsgerät verloren. China, so die USA in ihrer aktuellen Sicherheitsstrategie, sei „der einzige Konkurrent, der sowohl die Absicht hat, die internationale Ordnung neu zu gestalten, als auch zunehmend über die wirtschaftliche, diplomatische, militärische und technologische Macht verfügt, dies zu tun“.

Chinas Staatschef betont die „felsenfeste“ Freundschaft mit Russland

Pekings Staatsmedien greifen die Forderungen vieler Bürger, sich die einst gestohlenen Gebiete zurückzuholen, zwar nicht auf. Im Internet aber erlauben Chinas ansonsten so wachsame Zensoren bisweilen hitzige Debatten über die Gebietsansprüche. Vielleicht, weil der damit einhergehende Nationalismus ganz gut in die politische Großwetterlage passt. Bis 2049, zum 100. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik, will China wieder Großmacht sein. Bis dahin will Peking nach Ansicht der meisten Experten die Taiwan-Frage lösen, notfalls mit militärischer Gewalt. Und auch die Demütigungen von einst sollen dann endgültig der Vergangenheit angehören. Auch deshalb befeuert Pekings Propagandamaschinerie immer wieder Kampagnen gegen einstige Kolonialmächte wie Japan.

Im Falle von Russland könnte der heraufbeschworene Nationalismus der chinesischen Regierung noch auf die Füße fallen. Sie könnte sich gezwungen sehen, den Forderungen nach einer Zurückeroberung der verlorenen Gebiete nachzugeben. Zumal Russland gerade die Blaupause dafür liefert, indem Putin seinem Volk den Angriff auf die Ukraine als historische Mission verkauft: Russland, so Putin, hole sich nur zurück, was ihm sowieso gehört. Ob man in Peking eines Tages ähnlich entscheidet? Noch betont Staats- und Parteichef Xi Jinping die „felsenfeste Freundschaft“ zwischen China und Russland und steht eng an der Seite des Kreml, auch im Ukraine-Krieg. Den russischen Überfall hat Peking bislang nicht verurteilt; auf dem G20-Gipfel auf Bali wich China unlängst von seiner harten Position nur millimeterweise ab.

China investiert in Russlands Osten

Vielleicht hofft man in Peking ja darauf, dass sich der Konflikt mit Russland irgendwann von ganz alleine löst. Nicht, weil Moskau die umstrittenen Gebiete eines Tages an China zurückgeben wird – sondern weil geschäftstüchtige Chinesen schon jetzt Fakten schaffen. Chinas Staatsunternehmen bauen Eisenbahnlinien und Straßen in Russlands Osten oder pachten in Ostsibirien Hunderttausende Hektar Land, um Getreide und Sojabohnen für die Bevölkerung jenseits der Grenze anzubauen. Schätzungen zufolge könnte Russland Nahrung für zusätzliche 450 Millionen Menschen produzieren, wenn es all sein für die Landwirtschaft geeignetes Land auch nutzen würde. Es ist ein gigantisches Potenzial, das Begehrlichkeiten in China weckt. In der Volksrepublik leben rund 20 Prozent der Weltbevölkerung, dort liegen aber nur neun Prozent der weltweiten Anbaufläche.

Hunderttausende chinesische Wanderarbeiter sollen heute im Osten Sibiriens leben. Gleichzeitig schrumpft die einheimische Bevölkerung, denn immer mehr Russen ziehen in den wirtschaftlich stärkeren Westen des Landes. In Russlands Osten – auf einer Fläche, die ein Drittel der Landmasse des Riesenreichs ausmacht – leben zusammen gerade einmal so viele Menschen wie in der Hauptstadt Moskau, und es werden immer weniger. Zum Vergleich: Allein in der chinesischen Grenzprovinz Heilongjiang leben rund 32 Millionen Menschen.

Wladimir Putin scheint den übermächtigen Nachbarn gewähren zu lassen. Vielen in Russland stößt diese schleichende Eroberung allerdings sauer auf. Vor ein paar Jahren brachte der Kremlkritische Journalist Alexander Sotnik auf den Punkt, was viele seiner Landsleute insgeheim denken: „Wladiwostok ist praktisch schon chinesisch.“

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