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Ein Blick ins schwarze Loch: Verschwindet Russland nach Putin von der Landkarte?

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Von: Foreign Policy

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Wladimir Putin im März 2022 im Moskauer Luschniki-Stadion.
Wladimir Putin im März 2022 im Moskauer Luschniki-Stadion. © IMAGO/Sergey Guneev

Ein ukrainischer Sieg könnte die einzige Chance sein, Russland langfristig zu retten, schreibt die Historikerin Anastasia Edel in ihrem Essay.

Bis vor kurzem lebten wir in einer Welt, in der groß angelegte konventionelle Kriege mit Tausenden von Toten und Verwundeten nur in Videospielen und Büchern existierten. Einer Welt, in der eine globale Sicherheitsordnung die für beide Seiten vorteilhaften Handelsaktivitäten garantierte - der die führenden Nationen der Welt beitraten, um eine gemeinsame Zivilisation zu schaffen. Eine Welt, die unumkehrbar in Richtung liberale Demokratie tendierte.

Russlands Krieg hat diese Annahmen erschüttert. Im Herzen Europas sind mindestens 18.000 Zivilisten tot, 14,5 Millionen vertrieben und Tausende weitere wurden gefoltert, verstümmelt oder zwangsumgesiedelt. Das Trauma und das Unglück, das Russland unprovoziert über die Ukraine gebracht hat, erinnert an antike griechische Tragödien – trotz moderner Waffen wie Drohnen und Raketen. Die Barbarei der russischen Kriegsführung widerspricht allem, wofür die Moderne steht.

Das Russland wie wir es kannten, gibt es nicht mehr

Wenn dieser Krieg vorbei ist, besteht jedoch immer noch die Hoffnung, dass die Ukraine ihren Platz in einer helleren und ehrenvollen Zukunft einnehmen wird, den sie sich durch den Heldenmut ihres Volkes verdient hat. Das Gleiche gilt für Russland, das nun in das unvermeidliche schwarze Loch seiner Zukunft starrt.

Ich wurde erwachsen, als die Grenzen der Sowjetunion zusammenbrachen und sich Russland dem Westen anschloss. Ich war eine jener euphorischen jungen Russinnen und Russen, die inmitten der Ruinen des Kommunismus standen und sich auf ein Leben frei von Ideologie, Unterdrückung und Unwahrheiten freuten. Damals schien es, dass Russland nach einem jahrzehntelangen totalitären Umweg endlich seinen wahren Weg gefunden hatte – den eines freien, demokratischen Landes. Jetzt bin ich gezwungen, meine Annahmen darüber, was Russland ist und was es werden wird, noch einmal zu überdenken.

Diesmal fällt es mir - wie vielen anderen auch - schwer, ein Licht in Russlands Zukunft zu sehen. Ich habe eine Gruppe von Militärexperten, Soziologen, Journalisten und Wirtschaftswissenschaftlern, die sich beruflich mit Russland befassen, gebeten, mir zu helfen, mir die Zukunft vorzustellen. In einem Punkt sind sich alle einig: das Russland, wie wir es kannten – eine halbmythische eurasische Nation, die nach ihren eigenen Überlieferungen die Welt vor den Mongolen und den Nazis gerettet, ein kommunistisches Experiment durchgestanden und sich dann mit dem Westen wiedervereinigt hat – das gibt es nicht mehr. Sollte Russland als Staat in seinen jetzigen Grenzen fortbestehen, können wir uns auch einen neuen Namen dafür ausdenken.

Selbst bei Putins Rückzug: Für Russland gibt es kein Happy End mehr

Die Krise des Landes ist so tiefgreifend, dass selbst der Rückzug des russischen Präsidenten Wladimir Putin von der politischen Bühne Russlands, wann auch immer er eintritt, die derzeitige Entwicklung des Landes kaum ändern wird. Zu viele rote Linien sind überschritten worden, zu viele Punkte, an denen es kein Zurück mehr gibt. Für ein Russland, das zunehmend gesetzlos, wirtschaftlich dem Untergang geweiht und moralisch bankrott ist, gibt es kein Happy End mehr. Es scheint in einer ständigen Wiederholung seines eigenen traurigen Volksmärchens gefangen, in dem der Protagonist nur die Wahl hat, sein Pferd, sein Leben oder seine Seele zu verlieren.

Krieg ist ein großer Katalysator: Er verschärft bereits bestehende Trends und beschleunigt deren unvermeidliche Auflösung. Russlands Abstieg in den Autoritarismus hat schon vor langer Zeit begonnen, aber bis zum 24. Februar 2022 sah sich Putin gezwungen, zumindest den Anschein einer gelenkten Demokratie aufrechtzuerhalten.

Jetzt nicht mehr. „Der Krieg hat Russlands Abstieg von der Autokratie zu einem totalitären Staat beschleunigt“, erklärt Mark Feygin, ein ehemaliger russischer Oppositionspolitiker und Anwalt, der jetzt in einem beliebten YouTube-Kanal den Ukraine-Krieg verfolgt. Die beiden letzten verbleibenden Freiheiten der Russen – die Möglichkeit, das Land zu verlassen und der Zugang zu alternativen Informationsquellen – können ihnen jederzeit genommen werden. Lew Gudkow, ein prominenter Moskauer Soziologe und Direktor des letzten unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Russlands, des Lewada-Zentrums, beschrieb Putins Regime als „Totalitarismus 2.0“. Darin seien die wichtigsten repressiven Instrumente der Sowjetunion, einschließlich einer politisierten Polizei, unterwürfiger Gerichte und Medienzensur, in einer Umkehrung des Liberalismus der 1990er-Jahre wieder eingeführt wurden.

Bruch mit der sowjetischen Vergangenheit: Putin hat „auf reine Gewalt umgestellt“

Die Bereitschaft des Kreml, außerhalb jeglicher rechtlicher Grenzen oder sogar seiner eigenen gesellschaftlichen Normen zu operieren, ist jedoch ein klarer Bruch mit der sowjetischen Vergangenheit. Der Grat zwischen Gefängnis und Erfolg war in Russland schon immer schmal, aber heute ist Russland ein Land, in dem Privatpersonen wie Jewgeni Prigoschin, der Gründer der berüchtigten Wagner-Gruppe, Sträflinge rekrutieren, sie mit Waffen des russischen Verteidigungsministeriums ausstatten und an die Front schicken können. Denjenigen, die überleben, wird Amnestie gewährt, und sie werden trotz ihrer kriminellen Vergangenheit als Helden gefeiert.

Der im Exil lebende Geschäftsmann Michail Chodorkowski, einst der reichste Mann Russlands, bevor Putin ihn ins Gefängnis steckte, sagte, Putin habe „die Spielregeln auf reine Gewalt umgestellt“. Die Russen haben nie viel von ihrem historisch schwachen Rechtssystem erwartet, aber jetzt können sie außerhalb des Gerichts auf eine geradezu mittelalterliche Weise bestraft werden.

Diese brutale „Gerechtigkeit“ macht vor Russlands Grenzen oder Kampflinien keinen Halt. Falls es durch die Vergiftung von Alexej Nawalny oder Sergei Skripal noch nicht klar war: Die mutmaßliche Beteiligung russischer Agenten an der jüngsten Briefbombenkampagne in Spanien, die unter anderen den spanischen Ministerpräsidenten, den Verteidigungsminister und ausländische Diplomaten zum Ziel hatte, ist ein weiteres Indiz dafür, dass Russland auf Terrorismus zurückgreift, um seine Ziele zu erreichen – ein Markenzeichen eines gescheiterten Staates.

Russland im Ukraine-Krieg: Öffentliche Unterstützung für Putin wächst

Welches Russland auch immer nach dem Krieg entsteht, es wird nicht das Russland von Tschechow und Dostojewski sein, das Land, das einst die westlichen Intellektuellen mit seiner immerwährenden Suche nach Sinn und seiner Fähigkeit zum Erhabenen zu sich lockte. Es wird ein Land der Kriegsherren und Kriminellen sein, in dem Gewalt das einzige Argument ist und Verbrechen keine Verbrechen sind, solange sie für das Vaterland begangen werden.

Falls Russen durch diese Metamorphose beunruhigt sein sollten, so zeigen sie es kaum. Die Bevölkerung, die sich einst als Teil einer friedliebenden Nation betrachtete, die nur zur Verteidigung zu den Waffen greift, hat sich nun geschlossen hinter ihrem kriegsführenden Präsidenten versammelt. „Wenn wir zu Beginn der Invasion Angst und Orientierungslosigkeit sahen, zeigten unsere Umfragen gegen Ende 2022 eine wachsende öffentliche Unterstützung für die Regierung“, sagt Gudkow.

In einem repressiven Staat spiegeln Umfragen möglicherweise nicht die wahre Stimmung hinter den oberflächlichen Antworten wider. Die Stichproben können zugunsten der Regierungsbefürworter verzerrt sein, weil diejenigen, die nicht zustimmen, Angst vor der Teilnahme haben. Aber sie zeigen einen allgemeinen Trend. Von den 72 Prozent, die angeben, die Regierung zu unterstützen, sind 20 bis 25 Prozent aktiv für den Krieg – entweder weil sie Putins Ressentiment-Narrativ glauben, oder weil sie davon überzeugt sind, dass Russland tatsächlich von Feinden umgeben ist. Die Propaganda strömt täglich von jedem Fernsehbildschirm im Lande, und sie erzeugt wirksam eine Art organisierten Massenkonsens.

Viele Russen rechtfertigen den Krieg - doch es werden Opfer nötig sein

Viele Russen neigen wahrscheinlich psychologisch dazu, den Krieg zu rechtfertigen, denn wenn das, was sie glauben – dass ihr Land einen gerechten Krieg gegen die Mächte des Bösen führt – nicht stimmt, dann gäbe es nur eine Alternative: Dass sie sich an den Verbrechen des Landes beteiligen und damit schuldig sind.

Dennoch könnte die Mehrheit angesichts des Ausmaßes der Repressionen, denen sie ausgesetzt sind, und der Brutalität, mit der das Regime gegen Andersdenkende vorgeht, auch einfach Angst haben zu protestieren. „Die Menschen haben das Gefühl, keinen Einfluss auf das Regime nehmen zu können, und passen sich an“, erklärt Michail Fishman, ein unabhängiger russischer Journalist und Moderator einer beliebten Analysesendung, die in Russland verboten ist.

Wenn sich die wirtschaftliche Lage verschlechtert, wird man den Russen einfach sagen, sie sollen den Gürtel noch enger schnallen und Opfer für Russlands „großen Sieg“ bringen. Und das werden keine kleinen Opfer sein. Sergej Guriew, Wirtschaftsprofessor an der Sciences Po in Paris, warnte vor den „katastrophalen“ wirtschaftlichen Auswirkungen der westlichen Sanktionen auf den russischen Öl- und Gassektor, die Hauptfinanzierungsquelle des Staatshaushalts.

Russland blickt in eine düstere wirtschaftliche Zukunft - die Oligarchen schweigen trotzdem

Ebenso schlecht für die wirtschaftlichen Aussichten Russlands ist der beispiellose Braindrain. Seit Beginn der Invasion sind mehr als eine Million Menschen geflohen, Das sind 1,5 Prozent der Erwerbsbevölkerung des Landes. Ob aus Angst vor der Einberufung oder aus Abscheu vor Putins Krieg gegen eine Nation, mit der Russland eine jahrhundertelange gemeinsame Vergangenheit verbindet: Diejenigen, die das Land verlassen, sind tendenziell gebildet und produktiv. Ihr Fehlen wird Russland daran hindern, wissensbasierte Industrien zu entwickeln oder sich von einer öl- und gasbasierten Wirtschaft zu lösen.

Russland wird wahrscheinlich auf lange Sicht ein Pariastaat sein und weiterhin vom grenzüberschreitenden Handel und von Investitionen abgeschnitten sein, während es Geld und Ressourcen in einen bodenlosen Krieg verpulvert - statt beispielsweise in Schulen oder Krankenhäuser. Zusammengenommen deuten diese Trends auf eine düstere wirtschaftliche Zukunft hin, deren Hauptlast die russische Bevölkerung tragen wird. Der einzige Weg, den ihr Land einschlagen kann, ist der unumkehrbare wirtschaftliche Niedergang.

Was ist mit den russischen Eliten, deren genusssüchtiger Vorkriegs-Lebensstil mit Yachten und Villen an der Côte d‘Azur weit entfernt ist von den strengen Erwartungen ihres Staatschefs? Sie können nicht zufrieden sein, aber diese Gruppe hat weder den Rücktritt der Regierung gefordert noch Kritik am Krieg geäußert. Auch die Oligarchen schweigen, obwohl viele von ihnen mit westlichen Sanktionen belegt wurden. „Putin hat viel getan, um alle wissen zu lassen, dass er jeden Mangel an Loyalität verfolgen wird“, so Guriew. Nach Gudkows Angaben wurden in den letzten fünf bis sechs Jahren 12 Prozent der hochrangigen russischen Beamten verhaftet.

„Wer abweichende Meinungen äußert, fällt aus dem Fenster“: Kann Russland als Staat überleben?

Diese Realität erzeugt bei den Eliten die gleiche Stimmung der Angst wie bei normalen Menschen. Arkadi Babtschenko, ein Journalist, der seinen eigenen Tod inszenierte, um ein mögliches Attentat der russischen Sicherheitsdienste zu vereiteln, drückt es noch unverblümter aus: „Jeder, der abweichende Meinungen äußert, fällt einfach aus dem Fenster.“ Damit spielt er auf eine Reihe ungeklärter Todesfälle von russischen Geschäftsleuten in den letzten Monaten an. „Putin regiert Russland wie mit einem Joystick“, sagt Babtschenko. „Das Land geht dahin, wo er will.“

Gesetzlos, eine schrumpfende Bevölkerung, immer weniger Talente und ein ressourcenzehrender Krieg gegen den kollektiven Westen… Es ist schwierig, der einen Kernfrage länger aus dem Weg zu gehen: Kann Russland als Staat überleben? Viele Experten – und ein wachsender Teil der führenden Politiker der Welt – bezweifeln das.

U.S.-Leutnant a.D., Brigadegeneral Ben Hodges, ehemaliger Befehlshaber der U.S.-Armee in Europa, sagte mir, dass sich der Westen auf den bevorstehenden Zerfall der Russischen Föderation vorbereiten sollte. Was – oder wer – nach dem gegenwärtigen Regime das Ruder übernehmen würde, sei ungewiss. „Der Kreml war schon immer undurchsichtig, aber früher wussten wir, wer die nächsten drei oder vier Leute waren“, so Hodges. „Ich glaube nicht, dass irgendjemand eine Ahnung hat, wie ein Regimewechsel aussehen könnte.“

Bricht Russland in fünf bis zehn Jahren zusammen? Eine Aufspaltung scheint möglich

Wenn der Zusammenfall unmittelbar bevorsteht, wie schnell wird er kommen? In einer vor einigen Jahren für das US-Militär erstellten Einschätzung prognostizierte Alexander Vindman, ehemaliger Direktor für europäische Angelegenheiten beim Nationalen Sicherheitsrat der USA, den Niedergang Russlands im Laufe von Jahrzehnten; jetzt hat sich die Rechnung auf Jahre verschoben. Es sei möglich, dass der Beginn des Zusammenbruchs Russlands in den nächsten fünf bis zehn Jahren zu beobachten sei, insbesondere an den Rändern des Landes. Vindman hat Russland jahrelang studiert, aber selbst für ihn ist es schwer, „sich von der Vorstellung zu lösen, dass Russland immer da sein wird und dass es ein dauerhafter Staat ist“.

So unwahrscheinlich ein Zerfall Russlands auch klingen mag, die Aufspaltung des Landes in nationale „Nachfolgestaaten“ könnte die einzige Möglichkeit sein, dem räuberischen und konsumorientierten Despotismus gegenüber seinen Nachbarn ein Ende zu setzen. Russland präsentierte sich jahrhundertelang als Metropole. Sein Erfolgsrezept aber basierte auf den Provinzen und Republiken, die als Wirtschaftsmotor und Talentschmiede für Moskau fungierten. Dieses Arrangement brach 1991 zusammen, und seither ist es Russland nicht gelungen, es durch ein nachhaltigeres oder produktiveres Modell zu ersetzen. Das Lang kann seine Raubzugmentalität nicht ganz ablegen.

In der sibirischen Region Jamal wird Erdöl und Erdgas gefördert - reich werden davon die wenigsten Bewohner. (Archivbild)
In der sibirischen Region Jamal wird Erdöl und Erdgas gefördert - reich werden davon die wenigsten Bewohner. (Archivbild) © fotogigi85/imago-images.de

Alexander Etkind, Historiker am Europäischen Hochschulinstitut, spricht von einer „Entföderalisierung“, einem Prozess, bei dem die ethnischen Regionen Russlands ihre Souveränität einklagen, um ihren Reichtum zurückzuerlangen. Der größte Teil des russischen Erdöls und Erdgases, so Etkind, wird in zwei autonomen ethnischen Regionen in Sibirien abgebaut: Jamal-Nenzen und Chanty-Mansi.

Von dort aus werden Öl und Gas über Pipelines nach Europa geleitet, doch die Gewinne in Höhe von Hunderten von Milliarden Dollar gehen an Moskau, das dann Zahlungen an seine Regionen verteilt. Die Störung dieses Modells durch westliche Sanktionen könnte ressourcenreiche Regionen dazu veranlassen, die Kontrolle Moskaus in Frage zu stellen. Warum kann die Republik Sacha ihre Diamanten nicht selbst verkaufen? Warum braucht die Tschetschenische Republik ein in Kämpfe verwickeltes, isoliertes Moskau, um ihr Öl zu verkaufen?

„Das russische Imperium produziert nichts“

In der postkolonialen Welt ist der russische Modus Operandi der Ausplünderung von Gebieten in seiner Domäne nicht nur amoralisch, sondern auch überholt. „Das Problem mit dem russischen Imperium ist“, so Feygin, „dass es nichts produziert. Es wird auseinanderfallen.“

Die russische Bevölkerung hat schon lange aufgegeben, auf ihre Regierung Einfluss zu nehmen.

Anastasia Edel

Kann auf dem Gebiet, das einst Russland hieß, etwas entstehen, das kein Gefängnis ist? Obwohl das Land 1917 und 1991 daran gescheitert ist, glaubt Chodorkowski – ein Geschäftsmann im Exil und Vorsitzender der Oppositionskoalition „Offenes Russland“ – dass Russland als parlamentarische Republik wieder aufgebaut werden kann. In seinem Manifest unter dem Titel „Wie man einen Drachen tötet“, einer Anspielung auf die antitotalitäre Fabel des sowjetischen Schriftstellers Jewgeni Schwartz, sieht Chodorkowski den Übergang zu einem dezentralisierten, entpersönlichten parlamentarischen Modell mit selbstverwalteten Regionen als einen Weg für Russland, sich von seinem autokratischen Fluch zu befreien.

Diese Idee scheint auch von anderen Oppositionspolitikern geteilt zu werden, darunter Nawalny und Ilja Jaschin, die beide derzeit im Gefängnis sitzen. Ein Wandel dieses Ausmaßes erfordert jedoch eine radikale Umgestaltung der verkrusteten russischen Bürokratie und einen Ausweg aus der Trägheit, die einem Land von der Größe Russlands zu eigen ist.

Der Sieg der Ukraine ist die Voraussetzung für ein „Tauwetter“ nach Putin

Dieses und jedes andere auch nur annähernd optimistische Szenario für Russland hat eine wichtige Voraussetzung: Ukrainischer Sieg und russische Niederlage. Kurzfristig, wahrscheinlich in den nächsten zwei bis drei Jahren, würde die Niederlage zwar nur zu mehr Repression führen, aber sie würde Putin politisch schwächen und die Möglichkeit für einen Wandel eröffnen.

Das heißt aber nicht, dass es eine Revolution geben wird. Die russische Bevölkerung hat schon lange aufgegeben, auf ihre Regierung Einfluss zu nehmen (Wahlen werden in Russland von oben „verwaltet“, wie alles andere auch), aber eine gemäßigtere Fraktion innerhalb der derzeitigen russischen Regierungselite könnte in der Lage sein, das Regime in Richtung einer abgespeckten Version von Chruschtschows Tauwetter zu lenken, der Zeit der relativen Liberalisierung, die auf das Ende von Stalins Terror folgte. Es könnte sogar sein, dass eine demokratische Koalition nach einem vorübergehenden revanchistischen Schwenk hin zu „nationalen Patrioten“ eine weitere Chance zum Wiederaufbau Russlands erhält, wie es Chodorkowski hofft.

Es ist jedoch nicht klar, wie bereitwillig Putins Elite ihren Reichtum oder sogar ihre Freiheit aufgeben wird, da sie wahrscheinlich eines Tages wegen ihrer Beteiligung an seinem Krieg strafrechtlich belangt werden wird. So wie Putin einst der Garant für ihren Wohlstand war, könnte seine Herrschaft ihre einzige Chance sein, Verfolgung zu vermeiden.

Russland hat immer noch viele Sympathien

Putin könnte sogar seine Untergebenen davon überzeugen, dass es kein Weltuntergang ist, vom Westen gemieden zu werden, und dass Geld – die Daseinsberechtigung seines Regimes – anderswo verdient werden kann. Russland hat immer noch viele Sympathisanten, die es als Gegengewicht zur amerikanischen Hegemonie sehen. Die sich abzeichnende geopolitische Neuausrichtung könnte sogar die Wirkung der westlichen Sanktionen abschwächen, da Russland seine Lieferquellen wechseln und alternative Märkte für sein Öl, Gas und andere natürliche Ressourcen finden könnte.

Ein Jahr nach der Invasion und angesichts der zunehmenden russischen Verluste ist klar, dass Putin diesen Krieg um jeden Preis gewinnen will. Er hat die russische Wirtschaft gezwungen, sich auf militärische Zwecke umzustellen, und die Fabriken angewiesen, Tag und Nacht zu arbeiten, um Artilleriegranaten und Geschütze zu produzieren. Es wird erwartet, dass die russische Armee im Frühjahr weitere Truppen mobilisieren wird. Sie mögen schlecht ausgebildet und ausgerüstet sein, aber es werden immer noch Tausende von Männern sein, die in einen Kampf geworfen werden.

Putins Hoffnung: Ein langer Ukraine-Krieg - drei Szenarien sind denkbar

Hodges zufolge ist Putins einzige Hoffnung, diesen Krieg in die Länge zu ziehen. Heute ist die Unterstützung des Westens für die Ukraine groß. Dennoch ist es nicht undenkbar, dass der Westen, wenn der Krieg zu lange andauert, irgendwann gezwungen sein könnte, sich stattdessen mit anderen dringenden nationalen oder internationalen Problemen zu befassen. In diesem weniger hoffnungsvollen Szenario wird eine angeschlagene und zahlenmäßig unterlegene Ukraine zu Verhandlungen gezwungen sein. Und Putins Regime wird die Möglichkeit haben, zu überleben, sich neu zu formieren und sein nächstes Ziel zu verfolgen.

Für ein Nachkriegsrussland unter Putin oder seinem Nachfolger scheinen sich drei Wege anzubieten: in kleinere Teile zu zerfallen, sich weiter der Tyrannei zuzuwenden, um das, was vom Reich noch übrig ist, zusammenzuhalten, oder eine lange Zeit des langsamen Niedergangs zu ertragen.

Russlands Zukunft: Gewalt droht in jedem Falle

Die Gemeinsamkeit in allen drei Fällen ist die Gewalt. Ein Auseinanderbrechen bedeutet eine Neuverteilung von Macht und Vermögen, und das wird nicht auf friedlichem Wege erfolgen. Ein geschwächtes, anachronistisches Imperium, sei es in seiner tyrannischen oder in seiner langsam zerfallenden Form, bedeutet ein Russland, das von seinen Gründungsmythen abgetrennt ist und darum kämpft, wirtschaftlich relevant zu bleiben - ein düsterer, wenig verheißungsvoller Ort.

Dies ist weit entfernt von dem Russland, das sich die von der Perestroika geprägten Menschen erhofft hatten. Stattdessen ist Russland zu einer demokratischen Supernova geworden, die ihr Versprechen nie eingelöst hat, in sich zusammenfällt und Tod und Zerstörung über diejenigen bringt, die sich in ihrer Umlaufbahn befinden.

Aber nichts währt ewig, nicht einmal ein schwarzes Loch. Der Rückgang erfolgt langsam. Aber eines Tages hat ein schwarzes Loch keine Materie mehr, die es verbrauchen kann, und beginnt, seine Masse zu verlieren, wobei es winzige Teilchen zurück ins Universum ausstößt. Sie entkommen immer schneller, bis das Zentrum des schwarzen Lochs klein und instabil ist. In der letzten Zehntelsekunde seines langen Lebens verflüchtigt sich alles, was noch übrig ist, in einem riesigen Licht- und Energieblitz. Was einst für die Ewigkeit gedacht war, wird zu einer Erinnerung.

Für Russland ist der Sieg der Ukraine vielleicht die einzige Chance

Niemand – weder die besten Experten noch die engsten Kremlkreise oder gar Putin selbst – kann abschließend vorhersagen, ob Russlands eigener Untergang in Form einer gewaltigen Explosion, eines langsamen Zerfalls oder einer Kombination aus beidem eintreten wird. Aber nach Jahren des Verzehrs und der Zerstörung von allem, was sich ihm in den Weg stellt, ist die größere Frage vielleicht, ob Putins Russland das, was es verzehrt hat, in etwas Lebensfähiges verwandeln kann.

Für Russland selbst ist der Sieg der Ukraine vielleicht die einzige Chance. In den Worten Gudkows: „Das wird uns ein Stück Zukunft zurückbringen.“

Von Anastasia Edel

Anastasia Edel ist eine in Russland geborene amerikanische Schriftstellerin und Sozialhistorikerin. Sie ist die Autorin von „Russia: Putin‘s Playground“, einem kompakten Führer zur russischen Geschichte, Politik und Kultur. Ihre Texte erschienen in der New York Review of Books, der New York Times, der Los Angeles Times, Project Syndicate, Quartz, und World Literature Today. Sie unterrichtet Geschichte am Osher Lifelong Learning Institute der University of California, Berkeley. Twitter: @AEdelWriter

Dieser Artikel war zuerst am 10. März 2023 in englischer Sprache im Magazin „ForeignPolicy.com“ erschienen – im Zuge einer Kooperation steht er nun in Übersetzung auch den Lesern der IPPEN.MEDIA-Portale zur Verfügung.

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