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Glasmalerei in der guten Stube

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Auch Christi Geburt ist auf einem der Kirchenfenster zu sehen.
Auch Christi Geburt ist auf einem der Kirchenfenster zu sehen. © Gries

Die Glasfenster der Hergershäuser Barockkirche sind nicht nur Glaubenszeugnisse, sondern auch Kulturschätze von Rang.

Hergershausen – Die 1712 geweihte Barockkirche von Hergershausen ist ein stimmungsvolles Kleinod der Baukunst und des Glaubens. Das liegt nicht nur an ihren schönen Bauproportionen oder am legendären Orgelbauer Johann Christoph Dauphin, vor 300 Jahren bei der Registrierung der 1721 geweihten Orgel auch von Johann Sebastian Bach beeinflusst. Zu würdigen sind auch die Kirchenfenster von 1912, ein Produkt des Darmstädter Jugendstils der Mathildenhöhe.

Mangelnde Kenntnisse über solche Kunst sind die Norm. Die Forschungsstelle für Glasmalerei des 20. Jahrhunderts in Mönchengladbach analysiert gegenwärtigen Umgang mit solchen Werken, die auch Kultur- und Geschichtsdokument sind: „Die mit der Architektur verbundene Kunst der Glasmalerei ist oft ein von engagierten Mitbürgerinnen und Mitbürgern gestiftetes Kulturgut. Sie erbaut, belehrt oder erfreut die Betrachter, schmückt und verzaubert Räume ... Um Kirchenfenster wurde oft gerungen, frei vom Mediendiktat und Bevormundung durch den Kunstmarkt. Dabei schafft diese Glaskunst oft Kontinuität, Identität und Heimatbewusstsein. Als leicht zerbrechliches Kulturgut ist sie gefährdet: Viele Glasgemäldezyklen gingen im 2. Weltkrieg verloren, heute ist deren Farbenpracht durch Kommerz und Unverständnis bedroht. Daher gilt es, wieder einer breiten Öffentlichkeit Inhalte und Funktion von Glasmalerei bewusst zu machen.“

„Ehre sei Gott in der Höhe“ liest man auf dem Spruchband eines der Engelsbilder aus Glas auf der Empore der Kirchenostwand. Beide Werke stammen vom Darmstädter Theodor Gengnagel aus dem Jahr 1912.
„Ehre sei Gott in der Höhe“ liest man auf dem Spruchband eines der Engelsbilder aus Glas auf der Empore der Kirchenostwand. Beide Werke stammen vom Darmstädter Theodor Gengnagel aus dem Jahr 1912. © Gries

In Hergershausen scheint das anders zu sein, wo Pfarrerin Elke Becker mit ihren Konfirmanden gerne die schönen Glasfenster anschaut, besonders die ovalen. Die Glasmalerei in Hergershausens guter Stube wirkt gut erhalten und gepflegt. Offensichtlich ging man im Dorf achtsam mit diesem Kulturerbe um und ersetzte Zerbrochenes durch gleichwertig Moderneres. Das sieht man auch an einem der Fensterbilder im Altarraum, die das Wirken Jesu thematisieren. Es stammt nicht von 1912, wie die meisten im Kirchenschiff, im Altarraum oder auf der Empore, und auch nicht vom Darmstädter Entwerfer Theodor Gengnagel. Die kantige Aufteilung und Konstruktion der Glasscheibe deutet auf die 1950er Jahre. Der Schöpfer war der deutsche Maler und Glaskünstler Heinz Hindorf (1909-1990), der das gute Stück in der Glasmanufaktur Robert Münch in Groß-Umstadt zusammenfügte.

Die anderen Glaskunstwerke stammen aus einer anderen Zeit und Welt, die man sich vor Augen führen sollte. Ausgehend vom Weihnachtsbild mit der Geburt Jesu über die Taufe bis hin zu Kreuzweg, Grablegung und Auferstehung Jesu, bildet es Hauptstationen des christlichen Glaubens ab. Dabei wechseln schöne Querformate mit fast monumentalen Hochformaten wie bei „Ich bin der gute Hirte“ und „Ich bin die Auferstehung und das Leben.“ Dazu kommen zwei Engelsbilder aus Glas auf der Empore der Kirchenostwand: Auf Spruchbändern liest man „Ehre sei Gott in der Höhe“ und „Lobet den Herrn mit Posaunen“. Nicht nur die märchenhafte Darstellung des Engelstrios unter Sternen machen diese Motive zu romantischen Weihnachtsbildern. Der Gravur nach wurden sie gestiftet von Orgelbauer Georg Steinmeyer aus Öttingen, dem Erneuerer von Dauphins Barockorgel. Dazu kommen die Fensterbilder im Altarraum zu Jesu Heilung eines Kranken, zum segnenden Jesus und zum golden schimmernden Motivfenster „Lasset die Kindlein zu mir kommen.“ Die Gläser sind umrandet von stilisierten Bäumen, deren Äste durch reichhaltige Früchte herabhängen.

Keineswegs zu vergessen ist das Engagement der Gemeinde, 1912 bereits durch die Gesamtkosten der Renovierung von 29 000 Reichsmark gebeutelt. Die Fenster wurden gespendet: von Wilhelm Kolb II und seiner Frau, von Konfirmanden, von Friedrich Jakob Grimm und Frau, von Georg Herget oder auch von Carl Dörr. Solchen Stiftern ist Einmaliges zu verdanken, zumindest in unsere Region gibt es kaum Vergleichbares. Für die Mischung von Romantik, Tradition und Jugendstil steht Entwerfer Theodor Gengnagel (1880-1943), der mit der Gemeinde die Hergershäuser Fenster in der Darmstädter Firma Ender&Cie realisieren ließ. Der heute in unserer Region kaum bekannte Missionarssohn hatte einen interessanten Lebensweg von seiner Geburt in Ostindien bis hin zur Kunst-Professur in Stuttgart. Er war Meisterschüler des Jugendstil-Designers Friedrich Wilhelm Kleukens, dem Begründer der Steglitzer Werkstätten und Leiter der Ernst-Ludwig-Presse des Großherzogs der Mathildenhöhe Darmstadt, kürzlich zum Welterbe ernannt. Nach dem Kriegsdienst 1914 bis 1918 bezog Gengnagel ab 1921 ein Atelier im berühmten Ernst-Ludwig-Haus und leitete dort die „Werkstätte Gengnagel“. Bei den Entwürfen zu den Hergershäuser Scheiben war er auf dem Weg von der Romantik zum Jugendstil. Die Fenster sind also nicht nur Glaubenszeugnisse, sondern auch Kulturschätze von Rang, entstanden in der europaweit einmaligen Künstlerkolonie von Hessen-Darmstadts letztem regierenden Großherzog Ernst Ludwig, einem großen Förderer der Kultur und Kriegsgegner. Darauf darf man in Babenhausens Stadtteil Hergershausen durchaus stolz sein. (Reinhold Gries)

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