Bleibende Erinnerungen für Babenhausen

Der 9. und 10. November vor 83 Jahre ist in Erinnerung geblieben. „Da habe ich gesehen, wie unsere da rein sind und haben die Möbel aus den Fenstern geworfen“, erzählt eine Zeitzeugin, die 1938 als Kind in der Fahrstraße auf Höhe des Hanauer Tores beobachtete, wie Babenhäuser Wohnhäuser jüdischer Bürger zerstörten.
Babenhausen- Auch in bleibender Erinnerung der Anblick der beiden „Judenkinder“, die nach der Pogromnacht offensichtlich verängstigt in der Langstädter Schule in einem Eck an der Treppe gestanden haben.„Ich habe die beiden Kinder heute noch in Erinnerung“ , berichtet die Langstädterin. Mittags, auf dem Heimweg von der Schule, sei sie extra an der Synagoge vorbeigelaufen: „Da hat alles auf der Gasse gelegen, alle Bücher und alles, was die Juden hatten.“
„Die Pogromnacht in Babenhausen und Langstadt“ ist die Audiodatei betitelt, in der insgesamt drei Zeitzeuginnen von ihren Kindheitserlebnissen berichten. Aufgenommen haben Interviews seit 2017 Holger Köhn und Christian Hahn vom Büro für Erinnerungskultur im Auftrag des Heimat- und Geschichtsvereins (HGV) . „Erinnerungen einer Stadt“ heißt das Langzeitprojekt, deren Ergebnisse bereits in mehreren sogenannten Werkstattberichten der Öffentlichkeit präsentiert wurden. „Dabei wurde der Wunsch geäußert, ob denn die Erzählungen nicht öffentlich zugänglich gemacht werden könnten“, berichtet Hahn. Diesen Wunsch kann der HGV seit dieser Woche erfüllen. Sowohl über eine Medienstation mit großem Touchdisplay im Territorialmuseum als auch über eine eigens erstellte Internetseite sind nun 50 bebilderte Audio-Clips mit Ausschnitten aus den Zeitzeugeninterviews abhörbar. Insgesamt sind 90 Minuten abrufbar. Lediglich ein Bruchteil der gespeicherten 40 Stunden.

Es mache einen Unterschied, meint Köhn, ob man die im Stadtarchiv zu findenden verschriftlichten Zeitzeugenberichte nur lese, oder ob man die erzählende Stimme dazu hört. „Oft im Bawwehäuser Dialekt“, wie Köhn berichtet. Wichtig ist ihm und Kollegen Hahn, dass es sich bei den Erzählungen jeweils um persönliche Erinnerungen und damit subjektive Berichte handelt und nicht um Faktenwissen. Wie bedeutsam die archivierten Erinnerungen sind, zeige die Tatsache, dass etwa ein Drittel der in den vergangenen vier Jahren interviewten Zeitzeugen nicht mehr lebe.
Die 50 nun hörbaren Clips mit Fotos haben Köhn und Hahn in Kategorien eingeteilt. Neben „Jüdischem Leben“ – in dem auch die eingangs beschriebenen Erinnerungen aus der Pogromnacht zu finden sind – gibt es zum Beispiel auch „In der Schule“, „Kindheit“, „Arbeit und Beruf“, „Geschäftswelt“ und „Amerikaner in Babenhausen. Da der Heimat- und Gesichtsverein mit dem Projekt auch an die Schulen gehen möchte, dürfte die Rubrik „Freizeit“ den heutigen Schülern ein ganz anderes Bild aufzeigen: „Da kommst du von der Schule heim, und da lag ein Zettel auf dem Tisch, wo du hinkommen sollst, auf welches Feldstück“, erzählt einer von der landwirtschaftlichen Arbeit nach der Schule. Und aus der Zeiten, als die Väter im Krieg waren und die Kinder mehr mitanpacken mussten: „Da war nicht viel Zeit für die Schule. Da ging die Landwirtschaft in dem Fall vor.“ Oder: „Da hast du auch nicht sagen können abends um 7 Uhr, ich gucke jetzt Fernsehen. Da ging es noch einmal raus. Da ist dann noch einmal Kartoffel gelesen worden.“ Passenderweise trägt der Zusammenschnitt den Namen „Nach der Schule raus aufs Feld“.

Der Konfirmation ist ebenfalls eine Rubrik gewidmet. Amüsant dabei die Erzählung eines Babenhäusers, Jahrgang 1931, wie er zu seinem Konfirmationsanzug gekommen ist. Neben der Information, dass dieser die Familie zwei Ferkel kostete, erzählt er von seiner Fahrt mit dem Rad zum Schneider nach Leidersbach. Es sei ein warmer Tag gewesen und die Leute hätten ihm dann Apfelwein gegeben: „Ich hatte Dust und habe getrunken. Ich kannte das ja nicht. ... Und beim Fortfahren bin ich beinahe nicht aufs Fahrrad gekommen. Ich war besoffen.“ Auch die Erinnerungen an die Babenhäuser Kerb laden zum Schmunzeln ein.
Eine „Leerstelle gefüllt“, wie es Christian Hahn nennt, haben die Projektverantwortlichen mit „Ankommen in Babenhausen“. Durch zusätzliche Fördermittel konnten Interviews mit Babenhäusern geführt werden, die in den 1970ern als Gastarbeiter aus Italien oder der Türkei an die Gersprenz kamen und dort eine neue Heimat gefunden haben. So erzählt etwa Cetin (Jahrgang 1963) von der Gemeinschaft im Erloch. „Jeder hat jeden gekannt. Man war mehr draußen, habe seine Decke ausgelegt und Tee getrunken.“
Möglich gemacht haben das Gesamtprojekt „Erinnerungen einer Stadt“ Fördermittel vom Bund, vom Land Hessen und der Lokalen Aktionsgruppe Darmstadt-Dieburg. Für die neue Technik im Museum zeichnet die Firma Archimedix aus Ober-Ramstadt um den Babenhäuser Reinhard Munzel verantwortlich. (Norman Körtge)