Markerschütternde Schreie

Darmstadt - Weinend stürzt die Ehefrau nach Verkündung des Urteils zu ihrem Mann auf die Anklagebank. Der Familienvater ist vom Darmstädter Landgericht soeben wegen der Ermordung seiner Nachbarn in Babenhausen zu lebenslanger Haft verurteilt worden.
Vorzeitige Entlassung ist ausgeschlossen, die besondere Schwere der Schuld festgestellt. Als Motiv geht das Gericht davon aus, dass sich der 41-Jährige vom ständigen Streit der Nachbarn belästigt fühlte. Gestern ist damit ein Indizienprozess zu Ende gegangen, wie er nach Einschätzung des Vorsitzenden Richters Volker Wagner „selten vorkommt“. Der 41-Jährige bestreitet, die Tat begangen zu haben. Auch die Mutter des Angeklagten zeigt sich fassungslos: „Mein Sohn ist unschuldig. “.
Es passiere selten, dass eine „so unvorstellbare Tat“ nur anhand von Indizien aufgeklärt werden müsse, sagt Wagner und schildert in seiner 90-minütigen Urteilsbegründung zunächst genau den Hergang des Verbrechens: An einem frühen Aprilmorgen 2009 wird der 62 Jahre alte Immobilienmakler beim Heraustragen eines Müllsacks vorm Souterraineingang seines Reihenhauses mit sechs Schüssen niedergestreckt und stirbt. Er hatte noch versucht, die Kugeln mit seinen Händen abzuwehren.
Der Täter geht ins Haus und tötet die im ersten Stock schlafende Ehefrau mit zwei Kugeln in den Kopf. „Sie wurde nicht mal wach“, sagt Wagner. Gerichtsmediziner hatten am Kopf der 58-Jährigen keine durch Bewegung ausgelöste Blut-Abrinn-spuren feststellen können. Eine Etage höher schläft die autistische Tochter des Ehepaars. Der Mörder schießt zweimal auf sie und flüchtet. Die Frau überlebt schwer verletzt, irrt einen Tag lang durchs Haus und wird dann im Vorgarten liegend entdeckt. Im Prozess kann die 38-Jährige nicht als Zeugin gehört werden.
Lärmbelästigung als Mordmotiv
Die Familie musste allein deshalb sterben, weil von ihr unzweifelhaft eine hohe Lärmbelästigung für die umliegenden Anwohner und auch für den später angeklagten Reihenhausnachbarn ausging, wie Wagner sagt. Das Ehepaar zankte nach Zeugenaussagen immer wieder laut, die Tochter habe oft geschrien. „So laut, dass wir manchmal dachten, es ist etwas passiert“, berichtet ein nahe am Haus wohnender Babenhäuser vor Gericht. Die Schreie der „psychisch auffälligen Mutter“ wuden als „markerschütternd“ beschrieben. „Die Nachbarsfamilie war nachtaktiv“, beschrieb der Richter die Situation. „Da kann man sich vorstellen, was da los war.“ Der Angeklagte habe in seiner Wut eine ganze Familie auslöschen wollen. Andreas D. habe seinen Lebensinhalt - ein harmonisches Familienleben - zerstört gesehen. „Er konnte in seinen eigenen vier Wänden nicht so leben, wie er wollte.“ Die Ehefrau des Angeklagten habe vor der Tat von Umzugsplänen erzählt, gibt eine Zeugin zu Protokoll.
„Kann Lärmbelästigung Motiv für unbedingten Tötungswillen sein?“, fragt Wagner am Dienstag. „Ja“, fährt der Richter fort. „Denn ein Motiv erwächst aus der Lebenssituation.“ Genau das bestreitet der Angeklagte. Er habe mit den Nachbarn in einem „Ignorierverhältnis“ gestanden. Seine Verteidiger versuchen noch vehementer, eines der am schwersten wiegenden Indizien zu entkräften, denn auf dem Firmencomputer ihres Mandanten war ein heruntergeladener Bauplan für einen Schalldämpfer gefunden worden. Eine ebensolche, unter Verwendung von Bauschaum hergestellte Vorrichtung benutzte der Täter.
Auf den Bürocomputer ihres Mandanten habe fast jeder Zugriff gehabt, argumentieren die Anwälte. Aufgrund dokumentierter Ausdrucke und nachgewiesener Einwahlzeitpunkte auf den Server sieht das Gericht den Einwand als widerlegt an. Zusätzlich fanden die Ermittler an einer Hose des 41-Jährigen Schmauchreste, die mit dem Spurenbild der Tat übereinstimmten. Außerdem habe der 41-Jährige sich darüber informiert, wie Ermittler DNA-Beweise sichern und Spürhunde einsetzen. Der Angeklagte habe ein stets „untadeliges“ Leben geführt und das Verbrechen dann doch mit Heimtücke und aus niedrigen Beweggründen begangen, sagt Wagner.
Das Urteil entspricht dem Antrag der Staatsanwaltschaft. Die Verteidigung hatte einen Freispruch gefordert und will für eine Revision den Bundesgerichshof anrufen.
dapd/dpa