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Mutter kämpft um ihr Kind: Verdacht der Misshandlung

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Von: Claudia Kabel

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Nina B. (Name geändert) wälzt Aktenordner zum Sorgerechtsstreit um ihren Sohn.
Nina B. (Name geändert) wälzt Aktenordner zum Sorgerechtsstreit um ihren Sohn. © Monika Müller

Nina B. aus Darmstadt fallen Blessuren bei ihrem Sohn auf, wenn er beim Vater war. Sie wendet sich an das Jugendamt. Statt zu helfen, nimmt man ihr den Vierjährigen weg.

Der Anruf kam um 12.35 Uhr: „Sie brauchen Ihren Sohn heute nicht vom Kindergarten abzuholen“, sagt eine Frau vom Jugendamt. Er wohne ab heute bei seinem Papa.

Die Mutter, Nina B. (Namen von Mutter und Kind geändert), ist geschockt. Sie ist Berufsschullehrerin im Rhein-Main-Gebiet. „Ich weiß nicht mehr, wie ich es schaffte, nach Hause zu fahren“, sagt sie. Von unterwegs ruft sie panisch ihren Anwalt an, fragt, ob dort ein Beschluss vom Amtsgericht zur Umplatzierung ihres vierjährigen Sohnes Tim eingegangen sei – dies ist nicht der Fall. Sie fährt zur Kita, doch ihr Ex-Partner, von dem sie sich wegen Gewalterfahrungen 2019 getrennt hatte, hat den gemeinsamen Sohn bereits abgeholt.

Darmstadt: Kind „ohne Vorbereitung, ohne Verabschiedung“ abgeholt

„Ohne Vorbereitung, ohne Verabschiedung, nicht einmal sein Lieblingskuscheltier konnte er mitnehmen“, sagt Nina B. In ihrem Briefkasten findet sie eine Nachricht des Jugendamts Darmstadt, man habe sie nicht erreichen können. Im Gerichtsbeschluss, der später zugeht, wird die Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf den Vater damit begründet, dass die Umgänge nicht funktionierten, die Mutter ihre Ängste vor den impulsiven Verhaltensweisen des Vaters auf das Kind übertrage und dieses dadurch in einen Loyalitätskonflikt gerate, der das Kindswohl gefährde.

Bis sie ihren Sohn zum ersten Mal persönlich wieder sehen darf, vergehen drei Monate. Nina B. legt gegen die Umplatzierung Beschwerde beim Oberlandesgericht Frankfurt ein – ohne Erfolg. Sie strengt mehrere Gehörrügen an, geht bis zum Bundesverfassungsgericht – doch dieses lehnt die Beschwerde ohne Begründung ab.

Verdacht der Misshandlung in Darmstadt: Kind hat Hämatome am Körper

Tim lebt inzwischen ein Jahr fast zweihundert Kilometer entfernt von seiner Mutter, die ihn seit seiner Geburt versorgt hatte. Er ist jetzt fünf Jahre alt. Nina B. darf ihn einmal die Woche für drei Stunden besuchen. Nach Hause zu ihr darf er nicht, weil ihn das emotional zu stark belasten würde, wie es heißt. „Wir sitzen dann im Auto und spielen Lego“, sagt Nina B. Bei diesen Treffen fällt ihr auf, dass Tim regelmäßig Hämatome am Rücken, dem Po, den Armen und seit neuestem auch am Hals hat, wie sie sagt. Sie hat alles fotografisch dokumentiert. Tim zeige auch Zeichen von Vernachlässigung, sagt B. So trage er zum Beispiel seit einem Jahr dieselbe Schuhgröße. Fotos zeigen, dass sich die Zehen bereits krümmen. „Auffällig“ findet sie, dass ihr Sohn in der Woche der Vorsorgeuntersuchung „kein einziges Hämatom hatte“.

Das Zimmer des inzwischen fünfjährigen Tim ist so geblieben, wie er es zu letzten mal gesehen hat.
Das Zimmer des inzwischen fünfjährigen Tim ist so geblieben, wie er es zu letzten mal gesehen hat. © Monika Müller

Sieben Aktenordner füllen die Unterlagen zu dem Fall. Sie stehen säuberlich aufgereiht im Wohnzimmer von Nina B. An den Wänden hängen viele Bilder von Tim. Ein Kind, dass laut Gutachten nicht auffällig war, außer dass es nicht beim Vater übernachten wollte.

Darmstadt: Mutter wendet sich nach Verdacht der Misshandlung an Jugendamt

„Er weigerte sich, bei seinem Papa zu übernachten“, berichtet die Mutter. Nach einem dieser Besuche habe er zeitweise nicht gesprochen, sich an sie geklammert, sich eingenässt. Immer wieder habe sie gefragt, was passiert sei. „Er sagte: ‚Papa hat gesagt, das darf ich nicht sagen.‘“ Zweimal habe ihr Sohn nach Umgängen mit dem Vater identische Blessuren an der rechten Schläfe und eine verbogene Brille gehabt – angebliche Spielunfälle. Trotzdem habe sie versucht, den Sohn zu den Umgängen, die ihrem Ex-Partner zustanden, zu überreden. Gleichzeitig wendet sie sich an das Jugendamt Darmstadt und geht zur Kinderschutzambulanz, wo sie ihren Verdacht der Misshandlung äußert. „Im Ergebnis konnte die Kinderschutzambulanz weder eine körperliche Misshandlung bestätigen noch ausschließen“, heißt es.

Dennoch ist das Jugendamt alarmiert. Aber im weiteren Verlauf gerät die Mutter immer mehr in den Fokus der Behörden. Man unterstellt ihr, das Kind zu manipulieren, gegen den Vater aufzuhetzen, sie sei bindungsintolerant und übertrage ihren Konflikt mit dem Vater auf das Kind. Dieser habe zwar eine gestörte Impulskontrolle, könne aber das Kind besser aus dem Konflikt heraushalten. Man schreibt der Mutter psychische Störungen zu.

Verdacht der Misshandlung: Psychiater bezeichnet Beschluss in Darmstadt als „überkritisch“

Dass Nina B. an keiner solchen leidet, bestätigt ein hiesiger Psychiater. Dieser schreibt über den Beschluss des Amtsgerichts Darmstadt, dass die Betrachtungen „überkritisch“ gegenüber der Mutter und „unangemessen unkritisch“ gegenüber dem Vater seien. Dies lasse „erhebliche Zweifel an der Unparteilichkeit oder aber gravierende Mängel an der Sachkenntnis der Richterin aufkommen“. Dazu passt, dass die Entscheidung des Gerichts, das Kind zum Vater umzuplatzieren, entgegengesetzt zum Ergebnis des Erziehungsfähigkeitsgutachten ausfällt. In diesem Gutachten heißt es, dass der Konflikt zwischen den Eltern das Kindeswohl gefährde, dass aber ein Ortswechsel des Kindes nicht die Lösung des Problems sei.

Bei einer weiteren Verhandlung im Sommer 2021, diesmal zum Umgangsrecht der Mutter, diesmal am jetzt zuständigen Amtsgericht in Baden-Württemberg, äußert die Rechtsanwältin der Mutter den Verdacht der Kindesmisshandlung. Die Beweisfotos habe die Richterin jedoch gar nicht erst sehen wollen, sagt die Juristin der FR. Auch ein vorgelegtes ärztliches Attest sei nicht berücksichtigt worden. Darin hatte der ehemalige Kinderarzt sich zu den Aufnahmen geäußert: „Die Hämatome an Rumpf, Armen und Kopf sind nicht ohne weiteres und nicht in der Summe der Einzelerscheinungen erklärbar.“ Es bestehe der nicht auszuräumende Anfangsverdacht auf eine drohende Kindesgefährdung durch mögliche Gewaltanwendung und Vernachlässigung.

Hilfe suchen

Infos zum Sorgerecht bietet die bundesweite Mütterinitiative für Alleinerziehende (MIA) unter https://die-mias.de an. Dem Verein angebunden ist die Selbsthilfegruppe „Löwenmamas“. Per E-Mail an selbsthilfegruppe@die-mias.de kann Kontakt aufgenommen werden. cka

Auf Anraten des Gerichts stellt Nina B. im August 2021 über ihre Anwältin eine Kindeswohlgefährdungsanzeige beim Jugendamt Ludwigsburg. Doch das Jugendamt sieht offenbar keine Gefährdung. Im aktuellen Hilfeplan heißt es, es gebe keine Hinweise auf eine Kindswohlgefährdung durch den Vater. „Gewalt wird nicht als Erziehungsmittel angewendet.“ Klärung über die weiterhin vorliegenden Blessuren könnte anhand der Fotos ein Gerichtsmediziner herbeiführen, sagt die Anwältin von Nina B. „Doch für diese Überprüfung sieht das Jugendamt aufgrund der Rückmeldungen aus dem Nähefeld des Kindes keine Veranlassung.“ Inzwischen habe es drei weitere anonyme Anzeigen wegen Kindeswohlgefährdung gegen den Vater gegeben. Diese würden in den Bereich der Nachbarschaft sowie des Kindergartens eingeordnet. Das Jugendamt habe Vater, Kindergarten und Familienhelfer ein zweites Mal befragt, sehe aber keinen Anlass, seine Meinung zu ändern. Es würden keine Gefahren beim Vater vorliegen.

 Jugendamt Ludwigsburg sieht keine Gefährdung, Darmstadt fühlt sich nicht zuständig

Das Jugendamt Ludwigsburg beantwortet eine schriftliche Anfrage der Frankfurter Rundschau zum Fall mit Verweis auf die Schweigepflicht nicht. Auf die Frage, wie allgemein mit solchen Anzeigen umgegangen werde, teilt das Amt mit: „Je nach Einzelfall werden unangekündigte oder angekündigte Hausbesuche durchgeführt. Eine Inaugenscheinnahme des Kindes findet statt und seine Lebenssituation wird überprüft.“ Bei bestimmten Hinweisen würden Regeleinrichtungen und Personen einbezogen, die das Kind regelmäßig sehen und Einschätzungen zu den Anhaltspunkten machen könnten. Dies könnten Schulen, Schulsozialarbeit, Kindertageseinrichtungen, Kinderärzt:innen, bei häuslicher Gewalt auch die Polizei sein.

Der Kindsvater will gegenüber der FR zu den Vorwürfen keine Stellungnahme abgeben, sondern verbittet sich jede Kontaktaufnahme durch die Redaktion. Im Gegenzug setzt aber die psychologische Beratungsstelle des Landkreises Ludwigsburg die laufenden Elternkonsensgespräche aus – unter anderem wegen eingegangener Presseanfragen, heißt es.

Tim spielt gerne Feuerwehr. Seine Spielsachen konnte er nicht mitnehmen.
Tim spielt gerne Feuerwehr. Seine Spielsachen konnte er nicht mitnehmen. © Monika Müller

Verdacht der Misshandlung eines Kindes: Jugendamt Darmstadt äu0ert sich zu Fall

Das Jugendamt Darmstadt schreibt auf Anfrage der Readktion: „Insgesamt ist bezüglich des Falls mitzuteilen, dass das Jugendamt keine Entscheidungen im Alleingang umgesetzt hat und dies auch generell nicht tut. Unter Einbezug des Familiengerichts sowie der Kinderschutzambulanz, die eine Gefährdung des Kindes schilderte, wurde seitens der Familienrichterin entschieden.“ Die genannten aktuellen Beobachtungen der Kindesmutter bezüglich Misshandlungen am Kind seien dem zuständigen Jugendamt mitzuteilen. Darmstadt könne diese Hinweise nicht bearbeiten, da sich die Zuständigkeit nach dem Aufenthalt des Kindes richte. Man sei „nicht mehr in die pädagogische Arbeit involviert“.

Trotzdem übernimmt die Stadt Darmstadt seit diesem Oktober die Kosten für die Familienhilfe des Kindes, obwohl es nicht mehr hier lebt. Dazu nachgefragt, erklärt die städtische Pressestelle, man sei erstattungspflichtig, da sich das Kind vorher in Darmstadt aufhielt.

Es ist nicht die einzige Ungereimtheit in dem Fall. Nina B. und ihre Anwältin haben sämtliche aus ihrer Sicht falsch genannten Daten und Fakten, falsch zitierte Gutachten oder widersprüchliche Zeugenaussagen dokumentiert. Die Liste ist lang. „Aber niemand hat mir geglaubt“, sagt Nina B.

Darmstadt: Verdacht der Kindesmisshandlung in laut Expertin „kein Einzelfall“

Dass es sich hierbei um keinen Einzelfall, sondern um ein „strukturelles Problem“ handelt, davon ist Carola Wilcke überzeugt. Sie ist Verfahrensbeiständin, vertritt Kinder in Familienverfahren und hat die Selbsthilfegruppe „Löwenmamas“ gegründet. Darin seien bundesweit 2500 Frauen vernetzt. Aktuell seien 50 von ihnen von einer Umplatzierung ihrer Kinder zum Vater betroffen. Häufig hätte häusliche Gewalt eine Rolle gespielt, die dann im Verfahren keine Berücksichtigung mehr fand.

Wilcke sagt auch, sie beobachte, „dass es bei Gericht oft nicht um Entscheidungen zum Kindeswohl geht, sondern um Konflikte auf persönlicher Ebene“. Richter:innen wollten mitunter Mütter, „die nicht ihre Erwartungshaltung erfüllten, bestrafen“. Wenn Kinder den Umgang verweigerten, würde den Müttern vorgeworfen, sie würden die Kinder manipulieren, hätten eine Bindungsintoleranz. Deswegen müssten Mütter in solchen Situationen sehr vorsichtig sein. Häufig würden auch Verfahrensbeistände Stellung gegen einen Elternteil beziehen. Dies war auch bei Nina B. so: Die Verfahrensbeiständin gab an, die Mutter kooperiere nicht bei den Übergaben. Dabei hat weder sie noch die zuständige Mitarbeiterin beim Jugendamt Ludwigsburg Mutter und Kind je zusammen erlebt. Auch hier sieht Wilcke System: Pro Kind und Rechtszug erhielten Verfahrensbeistände eine Zahlung von 550 Euro. „Deswegen hat ein Verfahrensbeistand ein Interesse daran, Konflikte am Kochen zu halten“, so Wilcke. Zudem liege es im Ermessen des Gerichts, welcher Beistand bestellt werde.

Verdacht der Misshandlung: Zahlreiche Frauen wenden sich an Redaktion

Nina B. ist nicht die einzige Frau, die sich an die Redaktion gewandt hat, weil sie nach einer Trennung um ihr Kind kämpfen muss. Aus dem ganzen Bundesgebiet kamen Zuschriften. Allen gemeinsam ist, dass sie sich den Behörden, die ihnen nicht glauben, hilflos ausgeliefert fühlen. „Für die Beteiligten fühlt sich das an wie Folter“, sagt Wilcke.

Für Nina B. wird es ein trauriges Weihnachten, denn ihr Ex-Partner lehne Kontakte zu den Feiertagen ab, sagt ihre Rechtsanwältin. Erst am 21. Januar soll eine Verhandlung zum Umgangsrecht stattfinden. Dabei hatte sie schon im November um eine Regelung für die Feiertage gebeten. (Claudia Kabel)

In der Nähe von Darmstadt sorgte ein anderer Sorgerechtsfall für Aufsehen.. Die Polizei holt fünf Kinder nachts ab.

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