„Die Ukraine wird ihrer Identität beraubt“

Sie zeigen Solidarität und Zusammenhalt, halten blau-gelbe Flaggen und Plakate in die Luft: Rund 150 Menschen haben sich am Samstag bei der ersten Mahnwache gegen den Krieg in der Ukraine auf dem Europaplatz versammelt. Der Ausländerbeirat hat die Solidaritätsbekundung organisiert und den Ukrainern, die in Dietzenbach leben, Halt in dieser schwierigen Zeit gegeben.
Dietzenbach - Zu ihnen gehört auch die Familie Seidenberg. „Am Donnerstagmorgen hat mich mein Vater mit der Nachricht geweckt, dass Krieg herrscht“, sagt Tochter Diana. Und seitdem war es mit dem Schlaf für sie und ihre Eltern eigentlich auch vorbei. Die 27-Jährige ist in Odessa geboren und bangt seit Tagen um das Wohl ihrer Verwandten in der ukrainischen Hafenstadt. Die Steinberger stehen in regem Austausch über den Nachrichtendienst WhatsApp mit der Großmutter sowie dem Onkel und dessen Familie. Auch der Draht zu Freunden und Bekannten aus der Heimat glüht. „Momentan ist alles gut“, sagt Natalia Seidenberg. „Der Zusammenhalt der Ukrainer ist stark.“
Die 50-Jährige wirkt gefasst. Doch das ist sie nicht immer. „Wenn ich Ablenkung habe, geht es, aber ich weine viel und schlafe schlecht“, erzählt sie. Der Kontakt zum Bruder ist regelmäßig, das beruhigt. In Odessa, so berichtet er, gehe er schichtweise mit weiteren Bewohnern auf Patrouille. Ein selbst organisierter Wachdienst, der den Zusammenhalt der Menschen vor Ort zeigt. „Es ist beeindruckend, was die Ukrainer da gerade auf die Beine stellen, und das nicht nur in Odessa“, findet Diana. Natalia ergänzt: „Es bilden sich Schlangen vor Krankenhäusern, weil Menschen Blut spenden wollen.“ Die Schilderung der Seidenbergs bestätigen, was seit Tagen aus den Medien zu entnehmen ist: Der Kampfeswille der Ukrainer ist geweckt.
Auf der einen Seite fühlt sich die Familie mit den Menschen in ihrem Land geeint und strahlt Zuversicht und Stärke aus. Auf der anderen Seite schmieden sie einen Notfallplan, wie sie die 86-jährige Großmutter in Sicherheit nach Deutschland bringen könnten. Der Onkel hat sie bereits zu sich und seiner Familie geholt, sie ist nicht mehr richtig mobil. Doch von der Idee, ihr Land zu verlassen, hält die alte Frau nicht viel. „Sie hat zwar eine Tasche mit den wichtigsten Dokumenten dabei, aber sie will bleiben“, berichtet Natalia. Wenn es sein muss, bis zum Ende.
Vater Grigorij erzählt indessen von der Zeit, als sie die Ukraine verlassen haben. „Nach dem Zerfall der Sowjetunion war die wirtschaftliche Lage schwierig“, führt er aus. Keine Zustände, in denen man ein Kind großziehen will. Deshalb ist die Familie 1997 nach Deutschland ausgewandert und lebt seitdem in Dietzenbach. So dankbar sie um die neue Heimat sind, so sorgenvoll blicken sie auf ihr Heimatland. „Die Ukraine wird ihrer Identität beraubt“, stellt die Familie klar. Grigorij betont: „Dass Putin die ukrainische Sprache als Dialekt des russischen bezeichnet, ist völliger Irrsinn.“ Die Sprache ist eigenständig, klingt melodischer und verfügt darüber hinaus über eigene Schriftzeichen, die das Russische nicht hat. „Dennoch galten wir als Sowjets und mussten Russisch sprechen“, sagt Natalia. Diana erzählt: „Ich spreche deswegen leider nicht fließend Ukrainisch, aber ich fühle mich trotzdem ganz klar als Ukrainerin.“
In den vergangenen Tagen hat die Familie viel Zuspruch erfahren. „Jedes ‚Wie geht’s’ tut gerade gut“, sagt Diana. Die Mahnwache auf dem Europaplatz gibt ihnen Kraft: „Es ist schön zu sehen, dass auch andere Putins Taten in demselben Maße verurteilen wie wir.“ Die Vorsitzende des Ausländerbeirates Saliha El Achak zitiert bewusst Michail Gorbatschows Worte: „Nie wieder Krieg!“ Bürgermeister Dieter Lang findet, es gebe für die Mahnwache keinen passenderen Ort als den Europaplatz. „Die demokratischen Werte von Brüderlichkeit, Freiheit und Gleichheit sind stärker als diese Aggression“, skandiert er schließlich und die Zustimmung unter den Anwesenden wird laut. (Von Lisa Schmedemann)