Als Filme weder Farbe noch Ton hatten

Dietzenbach – Es gibt Bilder, die kann man hören. Als Beispiel sei hier der Löwe Leo genannt, der sein Maul im Vorspann des Filmstudios Metro-Goldwyn-Mayer weit aufreißt.
Dietzenbach – Die von goldenen Filmstreifen gerahmte Großkatze ist auch heute vielen Kinofans ein Begriff, obwohl sie ihren Ursprung in einer Zeit hat, in der Filme weder Farbe noch Ton hatten.
Der Berliner Stummfilmpianist Richard Siedhoff entführt seine Zuschauer und Zuhörer in eben jene Zeit, als Charlie Chaplin und Buster Keaton den Slapstick etablierten. Die diesjährigen Dietzenbacher Musiktage finden unter dem Motto „Musik bewegt“ statt. Dass das Auftaktkonzert zu bewegten Bildern im Main Kino D steigt, ist kein Zufall. „Der Ort und die Musik schaffen zusammen die Atmosphäre“, sagt Initiator Marcel Jung.
Der Musikmanager bezeichnet sich selbst als Fan von Buster Keaton. „Das ist Unterhaltung, aber ernste Unterhaltung“, beschreibt er. So parodiere der Komiker sein Zeitgeschehen, doch auf eine Art und Weise, die auch Kinder zum Lachen bringen. Die Kunst, ganz ohne Worte Geschichten auf der Leinwand zu erzählen, fasziniert auch Siedhoff seit einigen Jahren. Als Pianist und Cineast nimmt er die Besucher des Kinos, in dem eigentlich ein digitaler Projektor für das Filmerlebnis sorgt, mit in die analoge Welt. Das entspricht einer Zeitreise von etwa 100 Jahren: Der Film „The Navigator“ erschien 1924.
Musikalisch untermalte Reise
Vor dem Fenster, hinter dem die wuchtige digitale Variante ruht, stehen zwei analoge Filmprojektoren aus Siedhoffs Sammlung. Zwanzig Kilo wiegt einer – die 16-Millimeter-Filmrollen sind bereits aufgespannt. Das Licht verlässt den Raum und lässt das Publikum mit dem monotonen Rattern der Projektoren allein. Lediglich die Birnen hinter den Objektiven werfen die flimmernden Bilder auf die Leinwand. Krisselig sind sie und schwarz-weiß. In denselben Farben liegen die Tasten des großen Flügels vor dem Pianisten, erhellt durch eine kleine Lampe. Den Blick richtet Siedhoff auf die Leinwand und beginnt zu spielen.

Zunächst zeigt der Pianist das kurzweilige Abenteuer „The Boat“. Darin schlüpft Keaton in die Rolle eines Familienvaters, der in der Garage des Eigenheims ein Boot gebaut hat. Die Probleme beginnen schon, als er versucht, das Schiff durch das zu enge Tor zu ziehen. Er bindet das Boot an seinem Auto fest und gibt Gas – und die Mauer gibt nach. Die zu Boden fallenden Backsteine vertont Siedhoff mit einem Ritt die Tonleiter hinunter. In seiner Musik fängt er die Stimmung der Bilder ein oder verstärkt die Atmosphäre. Das Rattern der Projektoren tritt weit in den Hintergrund und ist schon nach kurzer Zeit nicht mehr zu hören. Das Klavierspiel des Filmfans zieht in seinen Bann.
„Es ist beeindruckend, wie die Musik auf den Punkt genau passt“
Nach „The Boat“ geht Keatons Reise in „The Navigator“ weiter. Diesmal verkörpert er den verliebten Millionärssohn Rollo Treadway, der ein Auge auf seine Nachbarin Betsy geworfen hat. Als Rollo um ihre Hand anhält, erklingt eine Hommage an den Hochzeitsmarsch. Dieses Zitat findet jedoch ein schnelles Ende, als Betsy verneint. Weitere bekannte Musikstücke, etwa die „Morgenstimmung“ von Edvard Grieg oder das englische Kinderlied „Row Your Boat“, fügt Siedhoff in sein stetes Spiel ein. Einige Filmszenen versieht der Pianist mit „Soundeffekten“: So erzeugt das Schlagen mit Klöppeln auf die Klaviersaiten ein Donnergrollen, während Blitze über die Leinwand huschen. Einem Grammophon, das sich in finsterer Nacht selbstständig macht, haucht Siedhoff mit einem Kazoo ein quäkendes Eigenleben ein.
Das Konzert ist eine Mischung aus Planung und Improvisation. „Ich erstelle mir vorher Konzepte“, erläutert der Pianist, „aber was daraus schlussendlich wird, überlasse ich dem Zufall“. Besucherin Ursula Heyes meint: „Es ist beeindruckend, wie die Musik auf den Punkt genau passt.“
VON LISA SCHMEDEMANN