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Frau aus Dietzenbach flieht aus Afghanistan: „Ich werde meinen Bruder verlieren“

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Von: Anna Scholze

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Afghanische Frauen auf einem Markt in Kundus
Nach der Übernahme der Taliban von Kabul in Afghanistan müssen Frauen in der Öffentlichkeit in Begleitung eines Mannes sein. (Archivbild) © Oliver Weiken/dpa

Eine Frau aus Dietzenbach ist in Kabul, als die Taliban die Macht in Afghanistan übernehmen. Unter dramatischen Umständen gelingt ihr die Rückkehr.

Dietzenbach – Es ist der 15. August. Der Tag, an dem die Taliban die afghanische Hauptstadt Kabul ohne größeren Widerstand einnehmen. Noch am Vormittag ist Sakita B. (Name von der Redaktion geändert), die bei ihrer Familie zu Besuch ist, mit ihrer Schwägerin in einem Einkaufszentrum, als die Geschäfte plötzlich schließen. „Wir haben geglaubt, dass es irgendwo in der Nähe wieder einmal zu einer Explosion gekommen ist“, erzählt die in Dietzenbach lebende Afghanin mit deutschem Pass.

Verunsichert betreten die Frauen die Straße. Ihre Versuche, ein Taxi anzuhalten scheitern jedoch. „Niemand wollte uns mitnehmen“, erinnert sich Sakita B. Erst beim vierten Anlauf haben sie Glück. Ein Fahrer erklärt sich bereit, die beiden Frauen zu befördern. „Er hat uns jedoch dazu aufgefordert, dass wir uns als seine Verwandten ausgeben, wenn uns jemand anhält“, erzählt die Dietzenbacherin. Nach den Scharia-Regeln der Taliban ist es Frauen verboten, mit fremden Männern zusammen zu sein.

Afghanistan: Überraschende Rückkehr der Taliban nach Kabul für Frau aus Dietzenbach

Kurz bevor der Taxifahrer Sakita B. und die Frau ihres Bruders Zuhause absetzt, erklärt er ihnen den Grund für seine Hilfe: „Ich habe euch geholfen, weil die Taliban kommen.“ Als sie das ihrer Mutter erzählt, glaubt sie ihr nicht. Die Menschen erzählten das seit vielen Jahren immer wieder, und bisher sei es nie passiert. Auch Sakita B. selbst rechnet nicht mit einer Rückkehr der Islamisten – zumindest nicht zu diesem Zeitpunkt. Hatte sie doch die Information, dass die Gotteskrieger frühestens im Jahr 2022 wieder in der afghanischen Hauptstadt präsent sein würden.

„Ich bin deshalb gemeinsam mit meinem Sohn in meine Heimat geflogen, um meinen Bruder mit seiner Familie und meine Mutter rechtzeitig nach Deutschland zu holen“, schildert sie. Reisepässe für die beiden werden ihr jedoch nicht ausgestellt. Und es kommt noch schlimmer. Die gebürtige Afghanin und ihre Familie werden bereits an diesem 15. August mit der grausamen Realität konfrontiert: Kurz nachdem Sakita B. vom Einkaufen zurückgekehrt ist, vernimmt sie das Lied der Taliban auf den Straßen. „Es war das Lied, das sie singen, wenn sie marschieren“, erzählt sie.

Afghanistan: Frau aus Dietzenbach versteckt sich vor Taliban in Keller in Kabul

Bereits am nächsten Tag versteckt sich die Familie in einem Kellerraum eines Bekannten. Denn ihr Bruder wird von den Taliban gesucht. Sie verdächtigen ihn, zum Christentum übergelaufen zu sein. Zudem missfällt es ihnen, dass er mit den Alliierten zusammengearbeitet hat. „Vor zwei Jahren haben sie ihn nach der Arbeit angeschossen“, sagt Sakita B. und ist dabei um Fassung bemüht. Noch heute stecke die Kugel neben seinem Herzen fest. „Den Ärzten ist es zu gefährlich, sie herauszunehmen“, erklärt sie weiter.

Für den Bruder als Feind der Taliban ist es zu gefährlich, das Versteck zu verlassen. Allein Sakita B. wagt sich zum Einkaufen raus. „Mich kennt dort niemand“, sagt sie. Schließlich lebt sie bereits seit 1992 in Deutschland.

Afghanistan: Frau aus Dietzenbach schildert schreckliche Bilder aus Kabul – „Überall war Blut“

Da Frauen in der Öffentlichkeit in Begleitung eines Mannes sein müssen, nimmt Sakita B. ihren minderjährigen Sohn mit zu den Besorgungen. Er habe dabei jedoch fürchterliche Angst gehabt. Denn während der Einkaufstouren sieht er Dinge, die auch seine Mutter zutiefst traumatisiert haben. „Wenn die Menschen den Taliban nicht rechtzeitig aus dem Weg gegangen sind, haben sie mit ihren Peitschen auf sie eingeschlagen“, sagt Sakita B. und ist immer noch entsetzt. Eines Tages habe sie beobachtet, wie die Terroristen einen älteren Mann brutal attackierten. Er habe zwar einen Rucksack aufgehabt, doch die Spitze der Peitsche habe ihn an der Schulter schwer getroffen. „Es war schlimm für mich, dass ich ihm nicht helfen konnte“, verleiht die junge Frau ihrer damaligen Ohnmacht Ausdruck.

Doch mit den Szenen auf der Straße hat das Grauen, das sie und ihr Sohn erleben müssen, noch lange nicht seinen Höhepunkt erreicht. Die beiden gehen insgesamt fünf Mal zum Flughafen, um von dort nach Deutschland zu gelangen. Die Bilder eines Tages haben sich dabei besonders tief in ihre Seelen gebrannt: Sie stehen mitten in einer Menschenmenge, als plötzlich Schüsse abgefeuert werden. „Überall war Blut“, schildert Sakita B. die Szene. Eine Möglichkeit zu fliehen, gab es nicht. Und auch sie selbst entging nur knapp einem Schuss. „Wenn ich nicht rechtzeitig meinen Fuß hochgezogen hätte, hätte mich die Kugel im Bein getroffen“, sagt sie mit zittriger Stimme.

Taliban in Kabul: Frau aus Dietzenbach muss Familie in Afghanistan zurücklassen

Erst nach mehreren verzweifelten Anrufen beim Auswärtigen Amt werden Mutter und Sohn über Katar zurück nach Deutschland gebracht. Ihre Familie müssen sie in Kabul zurücklassen. „Meine Nichte hat zu mir gesagt, du lässt uns hier alleine zurück“, sagt die Dietzenbacherin und weint. Auch ist sie überzeugt, dass sie ihren Bruder verlieren wird. „Die Taliban haben seine Wohnung durchsucht und dort Dinge gefunden, die die Anschuldigungen bestätigen“, berichtet Sakita B. Sie ist nun zwar in Sicherheit, geht aber zu einer Traumatherapie. (Anna Scholze)

Geflüchtete aus Afghanistan kamen auch am Flughafen Frankfurt an. Eine Lufthansa-Maschine brachte 300 Menschen aus Kabul.

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