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Dreieich: Blick in die Historie des Familienunternehmens Bratengeier

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So sah das in grauer Vorzeit beim Straßenbau aus.
So sah das in grauer Vorzeit beim Straßenbau aus. © homepage jean Bratengeier Bau GmbH

Anfang Dezember hatte unsere Zeitung darüber berichtet: Die Jean Bratengeier Baugesellschaft mbH mit Sitz im Gewerbegebiet Buchschlag ist in finanzielle Schieflage geraten. Das beim Amtsgericht Offenbach beantragte Insolvenzantragsverfahren ist zum 1. Januar eröffnet worden, wie Insolvenzverwalter Götz Lautenbach von der Kanzlei BBL Brockdorff bestätigt.

Dreieich - Wie es genau weitergeht, ist nach seinen Worten noch noch offen. „Der Betrieb wird fortgeführt, wobei aufgrund der Witterung wie jedes Jahr Saisonkurzarbeit für einen Teilbereich der Mitarbeiter angeordnet werden musste“, berichtet Lautenbach. „Wir warten noch auf weitere Übernahmeangebote und werden voraussichtlich bis Ende Januar entscheiden können, in welcher Form und durch wen das Unternehmen fortgeführt werden wird.“

Die Redaktion nimmt die Krise des 1888 als Pflasterbetrieb in Sprendlingen gegründeten Familienunternehmens zum Anlass, einen Blick in die Historie zu werfen. Auf der Homepage des Heimatkundevereins Freunde Sprendlingens ist sie unter dem Stichwort Industrialisierung fündig geworden. Gerhard Störmer, 2017 verstorbener Heimatkundiger, hatte eine Vielzahl von Informationen über den Traditionsbetrieb zusammengetragen und daraus einen überaus lesenswerten Bericht gemacht. Der folgende Text beruht darauf und ist stark gekürzt.

Der erste Namensträger Johann Simon Bratengeier kam aus Rothenburg ob der Tauber. Sein Nachfahre, der Sprendlinger Pflastermeister Jean Bratengeier, gründete 1888 mit seinen fünf Söhnen das später renommierte Straßenbauunternehmen. Durch die Bekanntschaft mit seinem ehemaligen Rittmeister aus seiner Militärzeit war er zu seinem ersten bedeutenden Auftrag gekommen: Pflaster- und Wegearbeiten auf der neuen Frankfurter Rennbahn in Niederrad. Zu Fuß und mit Schubkarren, beladen mit dem nötigen Werkzeug, zogen der Meister und seine fünf Söhne über die Gehspitz zu ihrer Arbeitsstätte nach Niederrad.

Das kleine Unternehmen entwickelte sich so gut, dass weitere Arbeitskräfte angeworben werden mussten, um die stetig wachsenden Aufträge in Frankfurt mit seinen großen öffentlichen Flächen wie Straßen, Parks und Wegen bedienen zu können. Damit gewann der Betrieb für Sprendlinger Fach- und Hilfsarbeiter zunehmend an Bedeutung, sodass eine Frage nach dem Arbeitgeber schlicht und ergreifend mit „bei de Firma“ beantwortet wurde. Und jeder wusste Bescheid.

Nach dem ersten größeren Auftrag auf der Rennbahn wurde das junge Unternehmen 1890 von der Stadt Frankfurt beauftragt, den Römerberg und die angrenzende Alte Mainzer Gasse umzupflastern. Damit begann ein rasanter wirtschaftlicher Aufstieg.

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 begann für die Firma Bratengeier eine neue Epoche mit den Herausforderungen Flughafen- und Autobahnbau. 1935 erhielt der Betrieb eines der ersten Auftragslose für den Bau einer Teilstrecke der neuen Autobahn Frankfurt-Bad Homburg.

Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs wurden viele Fachkräfte eingezogen. 1940 stand die deutsche Wehrmacht in der Normandie an der Küste nur circa 80 Kilometer von der englischen Kanalküste entfernt. Das Oberkommando befahl, zur Sicherung des besetzten Territoriums den Küstenstreifen festungsartig auszubauen. Der sogenannte Atlantikwall entstand, die Firma Bratengeier wurde mit eigenem und französischem Personal und entsprechender Ausrüstung zu den Straßenbauarbeiten kriegsverpflichtet.

Nach dem Krieg musste der Geschäftsbetrieb unter neuen und schwierigen Bedingungen wieder angekurbelt werden. Im Keller eines ausgebombten Hauses in Darmstadt wurde 1945 ein Firmenbüro eingerichtet. Die alliierte Stadtverwaltung erteilte der Firma einen umfassenden Auftrag zur Enttrümmerung der total zerstörten Innenstadt. Einen ähnlichen Auftrag wie in Darmstadt erhielt sie in einem kleineren Rahmen auch von der Stadt Frankfurt.

Stetiges Wachstum führte dazu, dass die Verwaltung von der Lahnstraße in Frankfurt nach Buchschlag verlegt wurde. Um 1960 beschließt die Geschäftsleitung, auch ausländische Arbeitskräfte anzuwerben, deren Unterbringung auf dem Betriebsgelände in Wohnbaracken erfolgte. Im Zuge dieser Maßnahmen sind zeitweise bis zu einem Drittel der Mitarbeiter aus Italien, Spanien und anderen Ländern für das Unternehmen tätig.

Die Geschäftsführung nach dem Zweiten Weltkrieg lag in den Händen eines Sohnes des Gründers, August Bratengeier, und eines Enkels, Hans Bratengeier. Die von einem Handwerksbetrieb zu einem industriellen Straßenbauunternehmen mutierte Firma hat wesentlichen Anteil am Aufbau Deutschlands. Beim 75-jährigen Firmenjubiläum 1963 beschäftigt das Unternehmen mehr als 760 Mitarbeiter. Die Firma Bratengeier baut Bundes- und Landstraßen, Autobahnen, Flugplätze (unter anderem die Startbahn West), Sportanlagen, Kanäle, Schienenwege und reguliert Flüsse. Die Referenzliste der Firma liest sich wie der Adelskalender für Industrie und Wirtschaft aus der Region: Robert Bosch, Degussa, Farbwerke Hoechst, Lurgi, Messegesellschaft, Metallgesellschaft, VDO und viele mehr. In Frankfurt werden außerdem Fressgass, Hauptwache, Zeil, Rossmarkt und die Mainuferpromenaden zu Visitenkarten der Firma.

Ende des 20. Jahrhunderts macht sich die nachlassende Bereitstellung öffentlicher Mittel für den Straßenbau zunehmend bemerkbar. Steigende Personal- und Sozialleistungen machen der Bauwirtschaft angesichts ihrer Kostenstruktur zusehends zu schaffen.

Anm. d. Red.: Seit 2003 ist Gerhard Bratengeier technischer Geschäftsführer, seine Schwester Margit Dietz verantwortet seit 2004 den kaufmännischen Bereich des Unternehmens, das in Dreieich erst vor Kurzem das „Longhouse Aparthotel“ mit 60 Zimmern für in- und externe Mitarbeiter gebaut hat. 2020 machte die Bratengeier Baugesellschaft einen Umsatz von circa 27 Millionen Euro. Im Dezember standen nach Angaben des Insolvenzverwalters etwa 140 Mitarbeiter auf der Gehaltsliste.  fm

Dass Sprendlingen als Dorf der Pflasterer bekannt wurde, ist hauptsächlich auf die Firma Bratengeier zurückzuführen. Das Bild stammt aus den 1950ern.
Dass Sprendlingen als Dorf der Pflasterer bekannt wurde, ist hauptsächlich auf die Firma Bratengeier zurückzuführen. Das Bild stammt aus den 1950ern. © -Stadtarchiv

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