„Glücksfall für die Lokalgeschichte“: Neuer Platz für verschollenen Thoraschrein-Vorhang

Der Jahrzehnte verschollene Thoraschrein-Vorhang der ehemaligen Synagoge in Dreieich-Sprendlingen ist nun dauerhaft in der Stadtbücherei ausgestellt.
Dreieich – „Ein wahres Schmuckstück“, freut sich Doris Bohländer-Schäfer über den jüngsten Neuzugang, der seit Kurzem in der Stadtbücherei zu bestaunen ist. Grund für die Freude der Büchereileiterin ist in diesem Fall kein seltenes literarisches Werk, sondern ein lang verlorengeglaubter Kultgegenstand der Sprendlinger Synagoge.
Da es in Sprendlingen keinen historischen jüdischen Ort mehr gibt, der als Ausstellungsort infrage käme, hätten sich die Stadt und der Heimatverein Freunde Sprendlingens dazu entschieden, den Vorhang als Dauerleihgabe der Bücherei zur Verfügung zu stellen, heißt es aus dem Rathaus. Hinter einer gläsernen Vitrine, geschützt vor Staub und im Halbdunkel liegend, ist der Thoraschreinvorhang der ehemaligen Sprendlinger Synagoge nun dauerhaft der Öffentlichkeit zugänglich.
Um das Artefakt vor dem Ausbleichen zu schützen, steht die Vitrine im Untergeschoss der Bücherei und ist mit einem separaten Lichtschalter versehen. Betätigt man diesen, erstrahlt der Vorhang erst in seiner ganzen Pracht, detailliert kommen Ornamente und hebräische Schriftzeichen zum Vorschein, die sich vom blaugrünen Schimmern des feinen Stoffes abheben.
Das war für mich ein ganz besonderer Moment und ein wahrer Glücksfall für die Lokalgeschichte.
Von Antwerpen nach Dreieich: Die Geschichte der verschollenen Kultgegenstandes
Die Geschichte der Beschaffung des Thoraschrein-Vorhangs kann kaum jemand so gut erzählen wie Wilhelm Ott. Immerhin ist es der Vorsitzende der Freunde Sprendlingens selbst gewesen, der maßgeblich an der Rückkehr des Kultgegenstandes vor zwei Jahren beteiligt gewesen ist. Die Luft habe er angehalten, als er eines Abends aus heiterem Himmel den Anruf eines Judaica-Händlers aus Antwerpen erhielt, der den Vorhang zum Verkauf anbot. „Das war für mich ein ganz besonderer Moment“, erinnert sich Ott und spricht noch heute von einem „Glücksfall für die Lokalgeschichte“.
Schließlich war bis zu dem Zeitpunkt überhaupt nicht davon auszugehen, dass dieses Zeugnis jüdischen Leben in Sprendlingen tatsächlich vom Terror und Vernichtungswahn der Nationalsozialisten verschont geblieben sein könnte. Zwar seien die Mitglieder der jüdischen Gemeinde so vorausschauend gewesen, die Kultgegenstände – darunter die Menora, die Thorarolle und den dazugehörigen Vorhang – rechtzeitig in Privathäusern zu verstecken, um sie somit vor der Zerstörung bei der Inbrandsetzung der Synagoge während der Pogromnacht 1938 zu bewahren. Irgendwann nach Ende des Zweiten Weltkrieges verlor sich dennoch die Spur der geretteten Gegenstände. Nur die Thorarolle habe ihren Weg in die Vereinigten Staaten gefunden, erzählt Ott.
Artefakt der ehemaligen Synagoge: Zeugnis jüdischen Lebens in Dreieich
Wie üblich, wurde auch in der Sprendlinger Synagoge die lange Pergamentrolle seinerzeit in einem Schrein aufbewahrt und nur am Shabbat hervorgeholt, ansonsten blieb sie verdeckt von dem kostbar gefertigten Vorhang. Dieser sei ein Geschenk der Frauengemeinde zum einhundertjährigen Jubiläum des Gebäudes im Jahr 1931 und gewissermaßen die „Zierde der Synagoge“ gewesen. Nach Rückkehr an seinen Ursprungsort war der Vorhang schon einmal Teil der Ausstellung „Jüdisches Leben unter dem Nazi-Terror“ im Rathaus. An dem neuen Standort ist dieser nun wieder dauerhaft zu sehen, zu den Öffnungszeiten der Bücherei und unter Berücksichtung der aktuellen Regeln.
Zur Kontextualisierung haben die Freunde Sprendlingens neben einem Fotobuch ebenfalls Flyer entworfen, die über die Geschichte des Thoraschrein-Vorhangs informieren. Ein Thementisch der Bücherei, mit Medien über die Sprendlinger Juden und die Synagoge, runden das Arrangement ab. Büchereileiterin Bohländer-Schäfer zufolge werde das neue Ausstellungsstück von den Besucherinnen und Besuchern bereits interessiert wahrgenommen. „So ein Angebot zu bekommen, das erlebt man nur einmal im Leben“, kommentiert sie die Wiederbeschaffung des wertvollen Artefakts. (Joel Schmidt)