Vorhang aus ehemaliger Sprendlinger Synagoge nach über 70 Jahren zurück

Als Wilhelm Ott im August einen Anruf bekommt, traut er seinen Ohren kaum. Ein Antiquitätenhändler bietet ihm einen Schatz von unfassbarem Wert an.
Dreieich – Eines Abends im August klingelt bei Wilhelm Ott das Telefon. Am anderen Ende meldet sich ein Antiquitätenhändler aus Antwerpen. Ob die Freunde Sprendlingens an dem Thoraschrein-Vorhang interessiert seien, der einst seinen Platz in der Sprendlinger Synagoge hatte. Ott ist geplättet. „So etwas passiert nicht alle Tage. Ich musste erst mal tief durchatmen“, sagt der Vorsitzende des Vereins für Heimatkunde. „Und als er den Preis genannt hat, musste ich noch mal durchatmen. “ Doch Ott hatte angebissen. Und jetzt ist der Vorhang zurück in Sprendlingen – nachdem er mehr als 70 Jahre lang verschollen war. Mit vereinten Kräften ist es gelungen, das kostbare Stück zu erwerben, das von großer lokalhistorischer Bedeutung ist.
Gestern Vormittag haben sich Ott und zahlreiche Mitstreiter des Vereins im Rathaus eingefunden, um der Stadt den Vorhang als Dauerleihgabe zu überlassen. Es ist der Tag nach dem Anschlag von Halle, bei dem ein mutmaßlich antisemitischer Rechtsextremist zwei Menschen erschossen hat. Der schwerbewaffnete Mann war zuvor mit einem Angriff auf die Synagoge gescheitert, in der die Jüdische Gemeinde Jom Kippur feierte. Er sei erschüttert über die Tat, sagt Ott.
Zeugnis jüdischen Glaubens kehrt nach Dreieich zurück
Bürgermeister Martin Burlon spricht von einem verabscheuungswürdigen Verbrechen. Es sei umso wichtiger, die Erinnerung an die Sprendlinger Juden wachzuhalten. Beide sind froh, dass mit dem Thoraschrein-Vorhang ein wichtiges Zeugnis jüdischen Glaubens nach Dreieich zurückgekehrt ist. Demnächst soll er einen „angemessenen“ Platz im öffentlichen Raum finden.
Er ist 1,96 Meter lang und 1,14 Meter breit – und ein Schmuckstück mit herrlichen Verzierungen, hergestellt von einer Firma in Kassel. In der Sprendlinger Synagoge verbirgt der Vorhang den Schrein, in dem die Thorarolle aufbewahrt wird – bis die Nazis das Gotteshaus am 10. November 1938 in Brand stecken. Da Juden schon vorher ständig mit Übergriffen rechnen müssen, nehmen sie Kultgegenstände wie den siebenarmigen Leuchter, die Thorarolle und eben den Vorhang des Schreins mit nach Hause, weil sie dort sicherer sind. So kommt es, dass sie erhalten bleiben, als die Synagoge zerstört wird.

Der Schuhmacher Gustav Strauß ist es, der die religiösen Symbole bei sich versteckt. Kurz bevor ihn die Nazis 1942 in ein KZ deportieren, vertraut er sie einer Sprendlingerin an, die sich heimlich um die Familie Strauß kümmert. Nach dem Krieg gibt die Frau die Gegenstände in die Obhut eines Juden in Langen, der sie nach Frankfurt weitergibt. Während die Thorarolle ihren Weg in die USA findet, verlieren sich die Spuren von Leuchter und Vorhang.
Vorhang ist in erstaunlich gutem Zustand
Bis zu jenem Abend im August, als der belgische Antiquitätenhändler sich an Wilhelm Ott wendet. Der studierte Judaist und Historiker hat den Vorhang von einem Mitglied der Jüdischen Gemeinde Antwerpen erworben. Wie er in den Besitz der Gemeinde gelangt ist, lässt sich nicht klären, wohl aber, dass der aus grün-blau schimmerndem Seidensamt auf einer Baumwollunterlage gefertigte Vorhang 70 Jahre zusammengefaltet in einem Abstellraum gelegen hat.
Dafür ist das Unikat in einem erstaunlich guten Zustand. Der Vorhang ist mit Ornamenten, Applikationen und Schriftzügen versehen. Neben Davidstern und Krone finden sich vier Zeilen mit hebräischen Schriftzeichen. Deren Übersetzung lautet: Spende der Frauengemeinde Zum Tage der Vollendung der hundertjährigen Gründung der Synagoge Der heiligen Gemeinde Sprendlingen.
Das hätte theoretisch auch das Sprendlingen in Rheinhessen sein können, ist es aber nicht, wie Recherchen der Freunde Sprendlingens ergeben. „Der Vorhang wurde offensichtlich zum jüdischen Neujahr 1932 gespendet, das am 12./13. September 1931 gefeiert wurde. Das Datum weist auf die Eröffnung der Sprendlinger Synagoge im Jahr 1831 hin“, berichtet Wilhelm Ott. Die Synagoge in der Pfalz ist hingegen schon 1825 eingeweiht worden. Zudem bestätigte das Jüdische Museum in Frankfurt, dass die Übersetzung korrekt ist. Auch zur Jüdischen Gemeinde in Antwerpen nimmt der Verein Kontakt auf. Sie versichert schriftlich, dass der Vorhang einem Mitglied zur Vernichtung oder zum Weiterverkauf überlassen worden sei. Auf diesem Weg landet er bei dem Händler.
Doch der Kaufpreis ist nicht ohne. Allein kann der Verein für Heimatkunde die Summe im hohen vierstelligen Bereich nicht stemmen. Zum Glück finden sich Unterstützer. Stadt, Kreis, Sparkasse, Stadtwerke und ein privater Spender machen die Anschaffung möglich. Der Vorhang soll nicht in einem Archiv verschwinden, sondern für die Öffentlichkeit zugänglich sein. Wo das sein wird, ist noch nicht geklärt. Sicher aber ist, dass er vom 10. bis 26. November bei der Ausstellung zu „Jüdischem Leben unter dem Nazi-Terror“ im Rathaus zu sehen ist.
Von Frank Mahn