Dreieicher Ärzteversorgung auf dem absteigenden Ast

Die hausärztliche Versorgung in Buchschlag wird spätestens zum Jahreswechsel kritisch: Während Dr. Karin Schüllermann Ende September in Rente geht, gibt Dr. Regina Heilmann-Seipelt zum 31. Dezember ihren kassenärztlichen Sitz zurück. Damit hat der Stadtteil mit Bettina Scholz nur noch eine Hausärztin, die gesetzlich versicherte Patienten behandelt. Schon jetzt liegt ihre Wochenarbeitszeit locker bei 60 Stunden.
Dreieich - Es war ein langer Prozess. Regina Heilmann-Seipelt hat sich viele Gedanken gemacht, wie sie ihre Praxis in der Hainer Trift in die Zukunft führt. Seit 1999 ist die Allgemeinmedizinerin mit der Zusatzausbildung Naturheilverfahren und Akupunktur-B-Diplom niedergelassene Ärztin in Buchschlag. „Ich habe meinen Patienten frühzeitig mitgeteilt, dass ich meinen Sitz abgebe, damit sie sich mit Vorlauf nach einer neuen Hausarztversorgung umschauen können. Ich werde ab nächstem Jahr weiter Privatpatienten behandeln und biete gesetzlich Versicherten, die in meiner Betreuung bleiben möchten, Behandlung zu einem reduzierten Satz als Selbstzahler an“, erklärt die Ärztin.
Gründe dafür gibt es viele. Regina Heilmann-Seipelt ist 59 Jahre alt, die Belastung bei 48 Wochenstunden in der Praxis ist hoch. Die vergangenen zwei Pandemie-Jahre haben Spuren im ganzen Team hinterlassen. Und: Es wird immer schwieriger, eine Praxis wirtschaftlich zu betreiben. „Ich weiß, einige Patienten sind jetzt sauer, weil ich aufhöre. Viele Leute denken, der Medizinerberuf ist so gut bezahlt. Aber die Basisversorgung durch die Hausärzte ist das Stiefkind der Politik“, sagt Heilmann-Seipelt. Die Pauschalen für die Behandlungen sind in den vergangenen Jahren immer weiter nach unten korrigiert worden. Um ein Beispiel zu nennen: Eine 42 Jahre alte Patientin kommt wegen eines Rückenproblems zum Arzt, dann kann die Praxis 12,84 Euro Pauschale berechnen. Kommt dieselbe Patientin im Quartal noch einmal, wegen akuter Bronchitis, kann diese Pauschale kein zweites Mal abgerechnet werden. Bei älteren Patienten steigt die Pauschale bis auf maximal 19,60 Euro und Ärzte können auch das ärztliche Gespräch mit 14,42 Euro abrechnen.
Aber: „Dieser Kostenpunkt darf aber nicht zu oft aufgeschrieben werden. Wenn es als überdurchschnittlich viel auffällt, werden Mediziner dafür in Regress genommen und müssen den Kassen das Geld zurückbezahlen“, berichtet Heilmann-Seipelt. Das macht die Suche nach Nachwuchs immens schwer. „Ich habe mich um einen jungen Arzt oder eine junge Ärztin bemüht, die mit einsteigt. Es ist aussichtslos. Sie wollen nicht niedergelassen arbeiten, sie wollen keine 60 Stunden arbeiten und sich dann noch darum kümmern, dass die Praxis geputzt wird. Es geht um Work-Life-Balance und auch um das wirtschaftliche Risiko. Mit diesen Pauschalen kann sich niemand mehr etwas aufbauen. Sie ziehen es, vor in Kliniken oder in Medizinischen Versorgungszentren angestellt zu arbeiten.“
Die Erfahrung hat auch Bettina Scholz gemacht: „Die jungen Kolleginnen – das Gesicht des Mediziners ist inzwischen sehr weiblich – sind ja nicht blöd. Sie sind sehr gut ausgebildet, hochintelligent. Sie haben oft noch kleine Kinder und wollen nicht rund um die Uhr arbeiten. Ich würde mich nie darüber beklagen, dass ich zu wenig verdiene, aber meine Kinder sagen immer, ich solle mir mal den Stundenlohn ausrechnen. Das mache ich lieber nicht.“
Der Arztberuf sei noch immer ihr Lieblingsberuf, aber eigentlich wollte Scholz – sie ist 60 Jahre alt – wie Heilmann-Seipelt bald etwas kürzer treten. Aus dem Plan wird jetzt erst einmal nichts. Sie hat sich um Verstärkung bemüht: Ab dem 1. September kommt eine junge Kollegin mit zehn Stunden in die Praxis, zum 1. Februar eine zweite Ärztin mit einer 75-Prozent-Stelle. Scholz geht davon aus, dass nicht alle Patienten von Regina Heilmann-Seipelt zu ihr wechseln. Es werden sich auch Buchschlager nach Sprendlingen und in die anderen Stadtteile verteilen. Aber 200 bis 300 werden es schon sein. Dann muss sie achtgeben, dass sie von der Krankenkasse nicht mit einer sogenannten Fallwertabstaffelung bestraft wird. Wenn die Zahl ihrer Patienten mehr als 50 Prozent über der Zahl einer Durchschnittspraxis liegt, bekommt sie ihre Leistung nämlich auch nicht mehr voll bezahlt. Bettina Scholz hat bereits angemeldet, dass sie diesen Wert vermutlich überschreiten wird. Generell sieht sie die Entwicklung nicht sehr positiv: „So wie wir unseren Beruf als Hausarzt betrieben haben, wird es ihn in Zukunft nicht mehr geben“, befürchtet sie.
Die Kassenärztliche Vereinigung Hessen, die für die Versorgung der Menschen mit Hausärzten zuständig ist, sieht derzeit keine neuen Praxen in Buchschlag. „Wir stehen mit umliegenden Praxen in Kontakt. Dort sind kurz- und mittelfristig neue Anstellungen von Hausärztinnen und -ärzten geplant. Wir gehen daher davon aus, dass Patienten von Frau Dr. Heilmann-Seipelt hierdurch versorgt werden können und die Schließung der Praxis kompensiert werden kann“, sagt der Pressesprecher der Kassenärztlichen Vereinigung, Alexander Kowalski.
Dreieich gilt nicht als unterversorgt, auch wenn in den Westkreis-Kommunen Dreieich, Langen, Neu-Isenburg derzeit schon 13 kassenärztliche Sitze nicht mehr besetzt sind. Ein sogenanntes Medizinisches Versorgungszentrum sei für unsere Region denkbar, aber: „Dafür ist ein per Gesetz gründungsberechtigter Akteur Voraussetzung. Vor dem Hintergrund, dass insbesondere hausärztliche Versorgung möglichst wohnortnah angeboten werden soll, ist es fraglich, ob ein Versorgungszentrum bei der Verbesserung der hausärztlichen Versorgung eine Ideallösung darstellen würde“, so Kowalski.
Der Bedarf an hausärzlicher Versorgung wird im Kreis Offenbach wegen einer immer älter werdenden Bevölkerung steigen. Im Kreis Offenbach liegt der Anteil der Menschen über 65 Jahre bei derzeit knapp unter zehn Prozent. Bis 2040 erwartet die Statistik der Kassenärztlichen Vereinigung den Wert bei über 30 Prozent. Gleichzeitig sinkt die Anzahl der Hausärzte. Betrug der Versorgungsgrad im Westkreis Offenbach im zweiten Halbjahr 2018 noch 106,17 Prozent, liegt er im ersten Halbjahr 2022 bei 94,34 Prozent. Dreieich hat im gesamten Stadtgebiet 26 Hausärzte in 20 Praxen. Von den 26 Ärzten sind vier über 65 Jahre alt, das sind 15,4 Prozent. Bis 2025 liegt die Nachbesetzungsquote schon bei 34,6 Prozent, 2030 bei 69,2 Prozent. Für den Stadtteil Buchschlag ist sie 2030 bei 100 Prozent angekommen.
Von Nicole Jost
Es ist offensichtlich. Die Situation wird immer schlechter, dabei sehen wir bislang nur die Spitze des Eisbergs. In den nächsten Jahren werden altersbedingt weitere Ärzte in Dreieich in den Ruhestand gehen. Dass sie Nachfolger für ihre Praxen finden, darf bezweifelt werden. Immer weniger junge Mediziner wollen sich diesen Stress zumuten. Ein „guter“ Hausarzt ist ja nicht nur von neun bis fünf für seine Patienten da. 50-, 60-Stunden-Wochen sind keine Seltenheit. Darunter leidet das Familienleben, das heute einen anderen Stellenwert hat als früher. Der Begriff Work-Life-Balance war da noch nicht erfunden. Was auf viele Junge abschreckend wirkt, ist der hohe bürokratische Aufwand, der „nebenbei“ zu leisten ist, und die Abrechnungsfallstricke, die Kassenärztliche Vereinigung und Kassen auslegen. Dabei sollten Ärzte das tun, wozu sie ausgebildet wurden: Menschen behandeln und heilen oder zumindest Linderung verschaffen.
Man darf auch nicht vergessen: Ein Hausarzt hat eine andere Funktion als ein Facharzt. Er ist eine Vertrauensperson, der man vieles erzählt und – eben – anvertraut. Ich erinnere mich noch gut: Vor fünf Jahren beendete mein langjähriger Hausarzt nach fast 40 Jahren und im Alter von fast 69 seine berufliche Laufbahn. Es war ein schmerzhafter Einschnitt für mich, der Mann kannte mich in- und auswendig. Glück hatte er, weil es eine Nachfolgerin gab. Mit der wurde ich aber nicht warm und machte mich auf die Suche. Fündig wurde ich in meinem Wohnort Offenthal und fühle mich dort gut aufgehoben. So viel Glück hat nicht jeder. Wenn die KV die Hausärzte nicht stärken möchte, gleichzeitig aber sogenannte Medizinische Versorgungszentren für unsere Region auch nicht als Ideallösung ansieht – was will sie dann?
Kommentar von Frank Mahn