Erinnerungen ans alte Sprendlingen

Udo Forster hat über den „Postillon“ Erich Lill ein Buch herausgebracht.
Dreieich – „Diese Erinnerungen müssen bewahrt werden. Sie sind ein einzigartiges Zeitdokument.“ Das war dem Dreieicher Udo Forster sofort klar, als er mit Erich Lill in Kontakt gekommen ist. Der fast 95-jährige Lill ist in der Stadt durch sein jahrzehntelanges Engagement für den Bienenzuchtverein und den Bund der Vertriebenen bekannt geworden. Doch er bewahrt noch einen anderen Erinnerungsschatz. Lill war Ende der 40 Jahre Landbriefträger und Paketzusteller in Sprendlingen. Dazu hat Forster das Buch „Der Postillon von Sprendlingen“ herausgegeben – ergänzt durch eine Auflistung der Gewerbetreibenden in dem Ort 1950.
Forster führt seit vielen Jahren sein „Archiv der lebenden Erinnerungen“, für das er vor allem Heimatvertriebene und Vertreter der Frankfurter Kunstszene interviewt. Sein Vater hatte damit in den 60er Jahren begonnen. Nun möchte Forster eine komprimierte Fassung herausgeben. Bei Lill hat er sich dazu entschlossen, dessen Erinnerungen separat zu veröffentlichen, bieten diese doch einen Einblick in das Sprendlingen Ende der 40er Jahre. „Ich kann mich noch an viele Personen und Gegebenheiten erinnern“, sagt Lill. In dem Büchlein ist sein täglicher Weg als Postbote mit all seinen „Kunden“ festgehalten.
Der aus dem Egerland stammende Lill kam durch die Vertreibung Ende 1946 nach Sprendlingen und versuchte zunächst, im Forstamt unterzukommen, was angesichts der vielen Bewerber aus dem Osten nicht möglich war. Der Vorsteher des Postamts, Otto Koch, mit dem Lill einmal Holz gemacht hatte, überredete ihn zur Bewerbung. So begann er am 1. Januar 1947 als Landbriefträger. Was damals aus der Not heraus geschah, „sehe ich heute aus anderer Perspektive. Ich habe ja dort Karriere gemacht und war immer ein hundertprozentiger Postler.“ Später übernahm Lill die Amtsleitung in Neu-Isenburg und ging 1990 in den Ruhestand.
Doch zurück zu den Anfangsjahren. Zu den Aufgaben eines Briefträgers gehörte auch das Einziehen der Rundfunkgebühren oder des Zeitungsgelds, aber auch die Auszahlung eines Teils der Renten. Manchmal gab es auch Fragen zu verschwundenen Katzen und Hunden. „Dadurch waren die Zusteller mit der Bevölkerung sehr verbunden und wurden allgemein geschätzt.“ Das half dem Egerländer, in der neuen Heimat Fuß zu fassen.
Schon im September 1947 übernahm er die Paketzustellung. Lill schien von der Statur kräftig genug, auch über den Winter die Aufgabe mit zweirädrigen Schubkarren zu bewältigen. „Der schlechte Straßenzustand machte es aber oft sehr schwierig“, erinnert sich Lill. Da bot ihm Bauer Leonhardt aus der Bangerstgasse an, ein Pferd und einen Mistwagen zu nutzen. Auch wenn der Vorgesetzte nicht begeistert war, da er bei der Lieferung der Pakete auf diesem Weg das Postgeheimnis nicht gewahrt sah. Doch Lill wollte sich die Quälerei mit dem Karren ersparen und setzte sich durch. Die Bevölkerung war natürlich erstaunt über den Paketzusteller mit dem Pferdewagen. „Und ich fühlte mich wie ein Postillon“, so Lill. Bereits ein Jahr später kam er in den Schalterdienst und seine Karriere bei der Post begann.
Natürlich kennt Lill viele Anekdoten. Zum im Schwedenhaus lebenden Wenzl Lill, der ebenfalls aus dem Egerland stammte, aber mit ihm nicht verwandt war, weiß er, dass dieser bei einem Hochwasser Ende der 40er Jahre mit einem Holztrog über den Hengstbach gepaddelt ist, da er nicht schwimmen konnte.
Lill kann auch von der damaligen Not berichten. Vor lauter Hunger wollte er Kartoffeln von einem Feld klauen. Doch es war zu heiß und die Kartoffeln zu klein. „Da wollte ich lieber verhungern.“ Seine Mutter versuchte dann, in der Nähe von Dieburg bei Landwirten Essbares für ihre Familie zu bekommen. „Ich ärgere mich, dass heute Lebensmittel nicht mehr wertgeschätzt werden“, so Lill. Besser wurde die Situation erst nach der Währungsreform 1948. „Ich musste damals die Mark in Postbüchern schriftlich durch D-Mark ersetzen.“
„Das hast Du mir alles gar nicht berichtet“, sagt Udo Forster zu dem fast 95-Jährigen und sieht noch genügend Stoff für eine Erweiterung der Erinnerungen.
Abgerundet wird das Buch durch eine Auflistung der Gewerbetreibenden in Sprendlingen 1950 von A wie Altmaterialien bis Z wie Zuckerwarenfabrik. Hinzu kommen Ärzte, Vereine und Verbände. Die zahlreichen Einträge zeigen eindrucksvoll, was das Dorf Sprendlingen damals alles zu bieten hatte – vor allem im Vergleich zu heute. Das Buch kostet 8,40 Euro und kann unter blurb.de bestellt werden. (Holger Klemm)