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Alte Werte für modernste Produkte: In Dreieich entwickelt Biotest nachhaltige Medikamente

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Von: Philipp Keßler

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In sogenannten Reinräumen werden die Produkte von Biotest hergestellt und abgefüllt – Zutritt für Unbefugte ist strengstens untersagt.
In sogenannten Reinräumen werden die Produkte von Biotest hergestellt und abgefüllt – Zutritt für Unbefugte ist strengstens untersagt. © Patrick Scheiber

Rund eine halbe Milliarde Euro Umsatz, eine vierstellige Zahl von Angestellten, fast 100 Länder auf der Liste der Abnehmer: Biotest macht Dreieich zu einem Zentrum für spezielle Medikamente auf der Basis von Blutplasma.

Wer die A661 in Höhe Dreieich entlang fährt, hat den schlichten Schriftzug an den großen, weißen Gebäuden sicher schon einmal gesehen: Biotest. Hinter diesem eher unscheinbaren Namen verbirgt sich ein Global Player. Mehr als 500 Millionen Euro Umsatz pro Jahr, mehr als 1500 Angestellte alleine in Dreieich, drei Prozent Weltmarktanteil. Bei dem Geschäft des bereits 1946 in Frankfurt gegründeten Unternehmens geht es von Beginn an vor allem um eines: Leben retten.

Aus einem Keller in Niederrad zu einem globalen Unternehmen mit Sitz in Dreieich

Die erste Entwicklung der von der Unternehmerfamilie Schleussner in einem Keller in Niederrad gegründeten Firma war ein Testserum zur Bestimmung des Rhesus-Faktors im menschlichen Blut, um Spender und Empfänger bei Bluttransfusionen sicher einander zuordnen zu können – eine Weltneuheit. Mehr als 75 Jahre später ist Blut weiterhin zentral für das Unternehmen, das sich seit 2022 in Besitz des spanischen Pharmakonsortiums Grifols befindet, nachdem eine Übernahme durch chinesische Investoren 2018 nicht den gewünschten Erfolg gebracht hatte.

Die heutigen Produkte des seit 1961 in Dreieich Immunglobuline, Gerinnungsfaktoren, Hyperimmunglobuline und Albumin. Es sind Medikamente, die zu 100 Prozent aus menschlichem Blutplasma gewonnen werden, das die Firma in mehr als 30 eigenen Plasmazentren in Deutschland, Ungarn und Tschechien von Spendern abnimmt und zudem in den USA einkauft. Und auch die Produkte treten aus dem Kreis Offenbach ihre Reise in die Welt an: 92 Länder stehen auf der Liste von Zulieferern und eigenen Tochtergesellschaften.

Michael Ramroth ist seit 19 Jahren bei Biotest, seit 2019 ist er Vorstandsvorsitzender.
Michael Ramroth ist seit 19 Jahren bei Biotest, seit 2019 ist er Vorstandsvorsitzender. © Patrick Scheiber

Blutbestandteile von gesunden Menschen als Medikamente für Kranke

„Die Natürlichkeit – und damit die Verträglichkeit – unserer Produkte ist durch ihre Herkunft, nämlich den menschlichen Körper, vorgegeben. Unser Rohstoff ist zudem regenerativ“, erklärt Vorstandsvorsitzender Dr. Michael Ramroth.

Doch wie funktioniert das genau? Das Blutplasma wird nach der Entnahme nach Dreieich gebracht, dort zunächst in Quarantäne bei minus 30 Grad eingelagert und dann in großen Tanks verarbeitet. Bei der sogenannten Fraktionierung geht es darum, die einzelnen Bestandteile des Blutplasmas (siehe Kasten unten) voneinander zu trennen. Und genau um diese Bestandteile geht es: Das Plasma eines gesunden Menschen enthält Millionen Eiweiße und Antikörper, die dafür sorgen, dass etwa die Blutgerinnung im Körper einwandfrei funktioniert und Krankheitserreger erkannt und passgenau abgewehrt werden können. Menschen mit Gendefekten wie der Bluterkrankheit, nach schwersten Verletzungen mit hohem Blutverlust oder bei schweren Erkrankungen wie Hepatitis oder einer schweren Lungenentzündung, etwa ausgelöst durch das Coronavirus, haben diese natürlichen Blutbestandteile nicht oder nicht mehr in ausreichender Menge – und da kommt Biotest ins Spiel.

Fachkräftemangel als Wachstumshemmnis

Rund 600 Millionen Euro hat die Aktiengesellschaft seit 2014 in den Standort Dreieich investiert – je zur Hälfte in neue Produktionsanlagen sowie in Forschung und Entwicklung neuer Präparate. Das Immunglobulin Yimmugo hat seit vergangenem November die Zulassung und wird seit Dezember vertrieben. Weitere Produkte, Trimodulin zur Behandlung von schweren Lungenentzündungen, ein Fibrinogen, das die Blutgerinnung maßgeblich beeinflusst, und ein Hyperimmunglobulin, das die Übertragung des Cytomegalievirus von einer Frau auf ihr ungeborenes Kind verhindern soll, befinden sich in der dritten und letzten klinischen Studienphase. Zudem werden bereits bestehende Produkte ständig weiterentwickelt, um die 500 000 bis 800 000 Patienten weltweit zu versorgen.

Damit das funktioniert, ist Biotest auf zwei Dinge angewiesen: ständigen Nachschub an menschlichem Plasma in ausreichender Menge und Qualität – rund 60 Prozent der Kosten entfallen alleine auf diesen Posten – und entsprechendes Fachpersonal aus den unterschiedlichsten Bereichen. So wie auch schon 2022 werden auch in diesem Jahr nur am Standort Dreieich 160 neue Stellen geschaffen, die es mit Biologen, Chemikern, Physikern, Laboranten, Chemikanten, aber auch mit Ärzten, Ingenieuren, IT-Fachleuten und Maschinenbauern zu besetzen gilt. Der viel zitierte Fachkräftemangel ist längst bei Biotest angekommen, zumal es im Rhein-Main-Gebiet auch noch namhafte Konkurrenz gibt. Entsprechend setzt das Unternehmen neben der Entlohnung auf weitere „Goodies“: eine unternehmenseigene Kindertagesstätte, eine eigene Kantine, Kooperationen mit Hochschulen für den wissenschaftlichen Nachwuchs, mobiles Arbeiten dort, wo es möglich ist, sowie den ehrgeizigen Plan, Produktion und Vertrieb bis 2035 klimaneutral aufzustellen – gerade Letzteres wird laut Pressesprecher Dirk Neumüller neben der Tatsache, eine sinnstiftende Tätigkeit auszuüben, in Bewerbungsgesprächen mit Nachwuchskräften immer wichtiger.

„Biotest Next Level“ ist das Herzstück der 300 Millionen Euro schweren Investition in das Produktionsgelände im Gewerbegebiet von Dreieichenhain.
„Biotest Next Level“ ist das Herzstück der 300 Millionen Euro schweren Investition in das Produktionsgelände im Gewerbegebiet von Dreieichenhain. © Patrick Scheiber

Zentrale Werte sind seit der Firmengründung gleich geblieben

Die zentralen Werte sind allerdings dieselben wie bei Firmengründung kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges: Vertrauen und Qualität. „Unser Anspruch ist es, dass wir ständig in ausreichender Menge und in höchster Qualität unsere Produkte herstellen. Vertrauen unserer Patienten aber auch unserer Spender ist in diesem Zusammenhang zentral“, sagt Unternehmenschef Ramroth. Die Qualität wird darüber hinaus auch vom Paul-Ehrlich-Institut in Langen überwacht, das jede Charge von Biotest-Produkten von der Plasma-Spende bis zum Endprodukt einzeln freigibt. Hierzu muss das Unternehmen eine entsprechend umfangreiche Dokumentation mit Dutzenden Tests in jeder Produktionsphase nachweisen. Insgesamt 2350 Mitarbeiter in zehn Ländern sorgen für möglichst reibungslose Abläufe beim Umgang mit dem raren Gut Blutplasma und den daraus entstehenden, noch wertvolleren Medikamenten.

„Ich glaube, dass es für Produkte wie unsere immer einen Markt geben wird. Insofern sehe ich sehr optimistisch in die Zukunft, zumal wir immer neue Krankheitsbilder entdecken, bei denen unsere Produkte eine Rolle spielen können“, erklärt Vorstandschef Ramroth. „Das gilt besonders für den Bereich von Allergien oder Autoimmunerkrankungen, die noch relativ unerforscht sind, wo es aber erste vielversprechende Ansätze gibt.“

Das Blutplasma

Zwischen 50 und 75 Prozent des menschlichen Blutes besteht aus einer klaren, gelblichen Flüssigkeit: dem Blutplasma. Es besteht zu 91 Prozent aus Wasser. Der Rest sind Nährstoffe, Hormone, Mineralien und mehr als 120 verschiedene Eiweiße, die lebenswichtig sind. Mit über 50 Prozent ist Albumin das am häufigsten vorkommende Eiweiß im Blutplasma. Es ist vor allem für den Transport von Stoffwechselprodukten und zur Regulierung des Flüssigkeitshaushaltes zentral. Darüber hinaus spielen Immunglobuline, sogenannte Antikörper, eine zentrale Rolle für den menschlichen Körper, identifizieren und bekämpfen sie doch als Immunsystem Krankheitserreger. Ebenfalls überlebenswichtig sind Gerinnungsfaktoren, die für die Blutgerinnung verantwortlich sind und so zum Beispiel dafür sorgen, dass eine Wunde verklebt und verheilen kann und der Mensch nicht verblutet.

Philipp Keßler

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