Mit der Kamera durch das alte Sprendlingen

Im vergangenen Jahr hat er mit den Erinnerungen des Briefträgers Erich Lill ab 1947 ein wichtiges Zeitdokument zum alten Sprendlingen veröffentlicht. In dieser Richtung ist Udo Forster ein weiteres Mal fündig geworden. Er hat den Nachlass des Hobbyfotografen Willi Stroh auswerten können. Das Ergebnis ist das beeindruckende Buch „Was der Lindenplatz erzählt – Erinnerungen an das Sprendlingen der Nachkriegszeit“. Beim Blättern entsteht der Eindruck, in eine Zeitkapsel zu schauen.
Dreieich - Es gibt bestimmt viele Nachlässe dieser Art, die noch auf Dachböden schlummern oder von Nachkommen achtlos weggeworfen worden sind. Das ist im Fall von Willi Stroh (1930 bis 1994) glücklicherweise nicht der Fall. Die mittlerweile verstorbene Witwe Gerda Stroh sprach vor einigen Jahren Udo Forster an, ob er sich den fotografischen Nachlass ihres Mannes nicht einmal anschauen möchte. Dieser zeigte sich begeistert und wählte aus mehreren hundert Aufnahmen 66 aus, die Eingang ins Buch gefunden haben. „Das sind Zeugnisse einer längst vergangenen Zeit. Stroh hat mit seinem fotografischen Instinkt den richtigen Augenblick erkannt und ihn mit seiner Kamera für die Nachwelt festgehalten.“
Stroh arbeitete für eine Armaturenfabrik in Frankfurt, in seiner Freizeit nahm er seine Pentax und dokumentierte mehr als 40 Jahre die Heimatgemeinde, die Landschaft und ihre Menschen. Aufgewachsen war der Sprendlinger in der Kirchstraße, der heutigen Alberusstraße. „In dieser Zeit entstanden Aufnahmen, die das Leben im Alltag und Straßenszenen als urbane Idylle in Erinnerung rufen“, betont Forster. Stroh ist für ihn ein Vorläufer der Streetfotografie, dem atmosphärisch dichte Aufnahmen gelangen. Vor allem die Altstadt von Sprendlingen hat den Hobbyfotografen zu seinen Impressionen angeregt.
Der Bereich im Herzen der ehemals selbstständigen Stadt steht auch im Mittelpunkt der Auswahl, die Forster aus dem Nachlass getroffen hat. Und die ist ihm angesichts der hohen Qualität der Fotos schwer gefallen. Er hat sie schließlich in folgende Kapitel aufgeteilt: Winter mit Fotos, die angesichts der Schneemassen kaum noch vorstellbar sind, die Kirchstraße und ihre Menschen, Mariahall, der Lindenplatz und seine Umgebung sowie Begegnungen. Der Schwerpunkt liegt dabei – bis auf wenige Ausnahmen – auf Fotos aus den 50er Jahren.
Neben Verwandten von Stroh sind auch Bewohnerinnen und Bewohner bei ihren alltäglichen Verrichtungen zu sehen. Ein Mann arbeitet beispielsweise an einem Auto, Passanten unterhalten sich oder beobachten die Arbeiten an einer Baugrube und vor dem Haus des Sprendlinger Stadtanzeigers gucken sich Radfahrer den Schaukasten an. Ein Junge und ein Mädchen blicken lächelnd in die Kamera, während auf einem weiteren Foto ein Mann in Arbeitskleidung mit energischen Schritten in die Kirchstraße läuft. Beeindruckend sind auch die Winterbilder, mal mit, mal ohne Menschen, die über die zugeschneiten und vereisten Bürgersteige und Straßen laufen. Mit der Kleidung der damaligen Zeit erinnern die Fotos manchmal an einen Film Noir. Besonders zu erwähnen ist auch die Szene mit Wanderschäfern auf den Ackern der Gärtnereien Stang und Beck. Diese wurden engagiert, damit deren Tiere dort ihren Dung lassen.
Forster hat versucht, mit Zeitzeugen und der Unterstützung der Tochter Annette Stroh, die bei der Verwirklichung des Buches half, herauszufinden, wer auf den Bildern zu sehen ist. Doch das war kein leichtes Unterfangen, wie der Herausgeber einräumt. Die Namen der Personen, die identifiziert wurden, finden sich am Ende des Buches. Das letzte Foto, das wohl aus den 70er Jahren stammt, zeigt einen Künstler bei der Arbeit an einem Modell für eine größere Skulptur. Forster ist sich sicher, dass es sich dabei um Hermann Will, den Schöpfer der Hooschebaa-Figur handelt.
Infos zum Buch
„Was der Lindenplatz erzählt“ kann auf der Homepage des Blurb Verlages (www.blurb.de) unter dem Stichwort Sprendlingen bestellt werden. Es kostet 20,49 Euro.
Von Holger Klemm
