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Über Platzvergabe, Fachkräftemangel und unverschämte Eltern

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Von: Nicole Jost

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Seit 2014 ist Anne Stein im Rathaus Leiterin des Ressorts Kinderbetreuung. Vergnügungssteuerpflichtig ist der Job nicht. Die Nachfrage übersteigt regelmäßig das Platzangebot und Eltern müssen vertröstet werden.
Seit 2014 ist Anne Stein im Rathaus Leiterin des Ressorts Kinderbetreuung. Vergnügungssteuerpflichtig ist der Job nicht. Die Nachfrage übersteigt regelmäßig das Platzangebot und Eltern müssen vertröstet werden. © jost

Viele Eltern sind angespannt, denn etliche Kinder stehen trotz des gesetzlich verankerten Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz auf der Warteliste. Annemarie Stein ist seit Mai 2014 Leiterin des Ressorts Kinderbetreuung im Dreieicher Rathaus. Sie hat mit uns über die Kriterien für die Vergabe der Kitaplätze gesprochen.

Am 1. März hat die konkrete Planung für die Vergabe der Kindergartenplätze begonnen. Wie läuft dieser Prozess im Rathaus ab?

Wir bringen die voraussichtlich frei werdenden Plätze stadtteilbezogen in Abgleich mit den bis zu diesem Zeitpunkt vorliegenden Anmeldungen. Bis zum Sommer ist noch Bewegung in diesem Prozess. Wenn wir nach dem Abgleich sicher sind, bis zu welchem Geburtsdatum wir für alle Kinder in ganz Dreieich in den jeweiligen Stadtteilen Plätze anbieten können, öffnen wir die Vergabe der bis dahin noch nicht vergebenen Plätze für alle Dreieicher Eltern – unabhängig vom Stadtteilbezug. Das machen wir, weil wir vermeiden wollen, dass beispielsweise in Offenthal alle Dreijährigen einen Platz haben, während in Sprendlingen die Eltern von Dreieinhalbjährigen noch auf einen Betreuungsplatz warten. Das heißt: Wenn wir in den fünf Stadtteilen alle Kinder bis zum Alter von drei Jahren und drei Monaten aufnehmen können, werden die noch nicht verplanten Plätze, die vielleicht nur im Stadtteil Götzenhain existieren, allen Dreieicher Eltern angeboten. Unabhängig vom Stadtteilbezug. Eltern empfinden dieses Verfahren manchmal als Provokation oder Schikane, wenn beispielsweise Sprendlinger Eltern ein Betreuungsplatz in Götzenhain angeboten wird. Uns ist es aber wichtig, Eltern nicht zu benachteiligen, weil sie im „falschen“ Stadtteil wohnen.

Wie viele Kinder kann die Stadt aufnehmen, wie viele Kinder bleiben auf einer Warteliste (U3/Ü3)?

Auf der Warteliste im Kindergartenbereich werden rechnerisch laut unserem Sachstandsbericht in diesem Sommer bzw. im laufenden Kindergartenjahr circa 166 Kinder nicht versorgt werden können. Im U3-Bereich ist das politische Ziel, jedem zweiten Kind zwischen einem Jahr und drei Jahren einen Betreuungsplatz anzubieten. In diesem Alterssegment liegt der Fehlbedarf rein rechnerisch bei 270 Plätzen. Aufgrund des bestehenden Fachkräftemangels ist die Lücke in der Realität aber größer.

Wie sehen die konkreten Vergabekriterien (U3/Ü3) aus?

Wir haben bei der Stadt Dreieich politisch beschlossene Vergaberichtlinien. Dafür sind wir der Kommunalpolitik auch sehr dankbar. Auch wenn wir den Eltern aufgrund bestehender Datenschutzbestimmungen keine Auskunft geben können, warum die eine Familie einen Betreuungsplatz erhält und die andere nicht, können wir intern die Transparenz jederzeit herstellen. Der Rechtsanspruch gilt für jedes Kind ab einem Jahr. Die Vergabekriterien greifen immer dann, wenn nicht ausreichend Betreuungsplätze zur Verfügung stehen. Bei der Krippe bekommen Eltern, die berufstätig, in Ausbildung oder arbeitssuchend sind, Vorrang, darüber hinaus alleinerziehende Eltern und Mehrlingsgeburten. Bei den Kindergartenkindern ist immer das Alter entscheidend. In allen Bereichen gehen Kinder vor, deren Kindeswohl gefährdet ist – ganz unabhängig von den familiären Rahmenbedingungen.

Wie groß ist die Belastung der Mitarbeitenden, die die enttäuschten, verzweifelten und manchmal auch unhöflichen Eltern am Telefon haben, die eben keinen Kindergartenplatz bekommen haben? Was müssen sie sich anhören?

Wir haben eine sehr professionelle Kollegin, die entsprechend geschult ist – auch in Deeskalationsstrategien, um gut mit kritischen Situationen umgehen zu können. Aber natürlich ist die Belastung groß. Die Kollegin wird beschimpft und beleidigt. Es gibt Unterstellungen, Bestechungsversuche, Schuldzuweisungen. Es wird häufig nicht gesehen, dass hier eine Mitarbeiterin der Stadt ihren Arbeitsauftrag ausführt. Wir wissen, dass diese Situation für Eltern schwierig ist. Eltern wird von der Politik suggeriert, dass sie sicher einen Betreuungsplatz für ihr Kind haben, sie planen ihr Leben, ihre Arbeit auf Grundlage dieser Zusicherung – dem Rechtsanspruch. Wenn die Rechnung aus Sicht der Eltern nicht aufgeht, machen sie sich oft direkt bei der Kollegin Luft.

Ist der Rechtsanspruch in Ihren Augen haltbar, wenn die Situation so ist, dass er allein auf dem Rücken der Kommunen getragen werden muss?

Der Rechtsanspruch ist für die Familien unabdingbar. Aber die Anforderungen von Familie und Beruf sind in der Realität nicht einfach zu vereinbaren. Familien müssen immer einen Plan B haben und brauchen ein gutes Netzwerk. Die Kita allein kann dieses Netzwerk nicht ersetzen. Das wurde zum Beispiel während der Pandemie ganz deutlich. Wir haben in den Kitas Schließzeiten, es gibt Betriebsferien, es gibt Konzeptionstage, aktuell wird gestreikt. Kinder sind auch krank. Es kommen viele Faktoren zusammen, weshalb Familien eben nicht sagen können, es gibt die Kita, die Schule, die Betreuung oder den Hort – mein Kind ist immer betreut. Das funktioniert in der Realität nicht.

Der Kitaausbau, dessen Finanzierung, die Betriebsorganisation und -unterhaltung sind Aufgaben der Kommune. Der Rechtsanspruch der Kinder auf Förderung in einer Kita oder in der Tagespflege ist die absolut richtige Antwort auf die Veränderung der Familienwelten. Allerdings werden die Kommunen mit dieser Aufgabe unter mehreren Aspekten ziemlich alleine gelassen. Da sind an erster Stelle der bestehende Fachkräftemangel und die unzureichende Finanzierung zu nennen, auch wenn bei der Finanzierung nachgebessert wurde. Bei der Umsetzung des Rechtsanspruchs ist der Kreis in seiner Funktion als öffentlicher Jugendhilfeträger mit im Boot. Er steht aber vor der unlösbaren Aufgabe, zum einen im Rahmen der Fachaufsicht für die Einhaltung der gesetzlichen Rahmenbedingungen zu sorgen, um eine Kita zu betreiben. Zum anderen soll er bei Klagen der Eltern per Gerichtsbeschluss dafür sorgen, dass Eltern Plätze angeboten werden, die überhaupt nicht existieren. Das passt nicht zusammen.

Glauben Sie, dass Kinderbetreuung wieder eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sein sollte: Kommune in Zusammenarbeit mit den Familien, aber auch den Arbeitgebern?

Familien stehen heute unter einem hohen Druck, auch was den Arbeitgeber angeht. Bildungseinrichtungen können Familien dabei unterstützen, Familie und Beruf zu vereinbaren, diese ergänzen, diese aber nicht ersetzen. Nach meiner Einschätzung werden Arbeitgeber aufgrund des Fachkräftemangels in allen Branchen zwangsläufig flexibler werden und Familien durch familienfreundliche Arbeitsbedingungen unterstützen müssen, um so erfolgreich Personal zu akquirieren. Die Digitalisierung wird diesen Prozess beschleunigen, flexiblere Arbeitszeitmodelle werden dadurch möglich. Das ist allerdings nicht in jedem Beruf möglich. Unsere Erzieherinnen sind ein gutes Beispiel dafür. Diese Aufgabe kann nicht im Homeoffice übernommen werden. Letztendlich bleibt die Verantwortung für die Erziehung der eigenen Kinder immer bei ihren Eltern.

Das größte Problem ist der Mangel an Erziehern. Was tut die Stadt Dreieich, um die Arbeitsplätze für Erzieher in der Stadt attraktiver zu machen? Gibt es Unterstützung bei der Wohnungssuche?

Wir bieten einen bunten Mix verschiedener Maßnahmen, um als Arbeitgeber attraktiv zu sein. Wir zahlen über Tarif, bieten das Jobticket der Premiumvariante, bieten interessante Fortbildungen, achten auf ergonomische Ausstattung, optimieren unsere Gebäude zum Beispiel hinsichtlich des Lärmschutzes oder rüsten digital nach. Wir bieten Prämien bei Aufstockung der Stunden, bei Werbung von Fachkräften, Ausbildung – alles, was möglich ist, es gab eine Aufstockung von Fortbildung und Supervisionsmittel, wir bieten alle möglichen Teilzeitmodelle und haben einen guten Personalschlüssel und wir helfen bei der Kitaplatzsuche.

Wenn Sie Bewerber haben, was ist den potenziellen Mitarbeitern am wichtigsten, worauf legen sie Wert bei ihrem neuen Arbeitgeber?

Ein gutes Betriebsklima ist das wichtigste Entscheidungskriterium bei Neuzugängen. Das schauen sich die Bewerber schon sehr genau an, wenn sie in unsere Häuser kommen. Die jungen Fachkräfte zieht unter anderem die digitale Ausstattung, natürlich auch die Gesamtausstattung und Raumgestaltung. Wie modern sind die Gebäude? Wie groß ist das Außengelände? Auch Fortbildungsmöglichkeiten sind den Kolleginnen wichtig.

Wie sieht es aus mit Erzieherinnen aus dem Ausland, gibt es schon spanische Fachkräfte in Dreieicher Kitas?

Wir haben noch keine spanischen Fachkräfte im Einsatz. Auftrag und Vertrag mit einer Vermittlungsagentur bestehen bereits seit längerer Zeit – aber auch hier müssen Konditionen erfüllt werden, wie zum Beispiel Sprachbarrieren abgebaut und optimalerweise Wohnraum gestellt werden. Wir rechnen dieses Jahr mit dem ersten Einsatz spanischer Kräfte im September. Dieser Prozess muss dann engmaschig betreut werden und betrifft nicht nur die spanischen Kolleginnen, sondern das ganze Team, in dem sie ankommen.

Warum dauert das in Dreieich im Vergleich zu vielen anderen Kommunen im Kreis, die zum Teil seit Jahren spanische Fachkräfte im Einsatz haben, so lange? In Langen gibt’s das seit 2016.

Langen war in der Tat sehr schnell. Wir waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht bei der Erkenntnis angelangt, dass Einwanderung tatsächlich eine Maßnahme unter vielen anderen sein muss, um auf den Fachkräftemangel zu reagieren. Wir haben zudem auch andere Unternehmen geprüft, die einen ähnlichen Ansatz haben wie Helmeca. Das Unternehmen kann inzwischen nur einen Bruchteil der Anfragen bedienen und bevorzugt Vertragspartner, die Wohnraum – nutzbar in WG-Form – anbieten können. Die Bereitstellung von Wohnraum macht den Zugang zu spanischen Fachkräften niederschwelliger.

Was wünschen Sie sich von der Politik, um Familien die notwendige Unterstützung zu bieten?

Die Sicherung der Kinderbetreuung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Wir brauchen daher die Unterstützung von Bund und Land. Die Kinder brauchen die Kitas zur Unterstützung ihrer Entwicklung, die Familien brauchen die Kitas zu ihrer Entlastung und zur Sicherung ihres Lebensunterhalts, die Wirtschaft braucht sie. Im Moment werden die Kommunen bei der Bewältigung dieser Aufgabe im Regen stehen gelassen. Das fängt an bei der Finanzierung für den Ausbau an und geht bei den Betriebskosten weiter. Auch bei der Bewältigung des Fachkräftemangels ist Hilfe dringend erforderlich. Wir brauchen eine Öffnung des Fachkräftekatalogs gebunden mit Auflagen zur Qualifizierung. Wir wollen den Qualitätsstandard nicht absenken, brauchen aber Handreichungen, um arbeitsfähig zu bleiben. Geeignete Nichtfachkräfte können bereits heute zu einem bestimmten Kontingent auf den Fachkraftschlüssel angerechnet werden, allerdings müssen sie als Voraussetzung dafür einen Meisterbrief oder studiert haben. In der Realität ist dies nicht die Personengruppe, die bei uns ankommt. Es gibt aber Menschen, die gerne in diesem Feld arbeiten würden, die die richtige Haltung mitbringen und die wir gerne beschäftigen würden. Dafür benötigen wir finanzielle Unterstützung und breit aufgestellte Ausbildungsmöglichkeiten. Auch wenn die Praxisintegrierte vergütete Ausbildung uns einen großen Schritt weitergebracht hat, die Ausbildung attraktiver und finanziell interessanter zu machen, reicht dieser Schritt alleine nicht aus, um junge Menschen und Menschen aus anderen Berufsgruppen für die Tätigkeit zu gewinnen. Auch mit Blick auf den Rechtsanspruch bei der Schulkindbetreuung sind hier unbedingt neue Wege zu gehen.

Das Gespräch führte Nicole Jost

Auch in Dreieich waren am Mittwoch Kitas geschlossen. Die Eltern waren zuvor informiert worden, um eine alternative Betreuung organisieren zu können.
Auch in Dreieich waren am Mittwoch Kitas geschlossen. Die Eltern waren zuvor informiert worden, um eine alternative Betreuung organisieren zu können. © -jost

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