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Wie sich ukrainische Flüchtlinge in Dreieich einleben

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Von: Nicole Jost

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In Buchschlag eine Unterkunft gefunden: Pia und Wolfgang Storm (von links) haben in ihrem Haus Platz für Amira, Diana, Alaa, Erika und Yana Awad. Auch Tamara, die Mutter von Yana, ist mit ihnen aus der Ukraine geflohen.
In Buchschlag eine Unterkunft gefunden: Pia und Wolfgang Storm (von links) haben in ihrem Haus Platz für Amira, Diana, Alaa, Erika und Yana Awad. Auch Tamara, die Mutter von Yana, ist mit ihnen aus der Ukraine geflohen. © -Nicole Jost

Die zerstörerischen Bilder aus der Ukraine beschäftigen die Welt seit mehr als einem Monat. Auch in Dreieich sind längst Familien aus dem Kriegsgebiet angekommen. Das Ehepaar Storm hat eine sechsköpfige Familie aus der Millionenstadt Charkiw aufgenommen, die seit einigen Tagen in der Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung auf etwas mehr als 50 Quadratmetern unter dem Dach lebt, die sonst für Künstler der Buchschlager Hauskonzerte oder die Enkelkinder zur Verfügung steht. Und die Offenthalerin Olha Sytenko, selbst Mutter von drei Kindern, hat in ihrem Haus für ihre Cousine mit zwei Kindern aus der Nähe von Kiew und ihre Mutter mit einer Freundin Platz geschaffen.

Dreieich - „Ich dachte, wir können nach drei oder vier Wochen wieder nach Hause“, sagt Alaa Awad (41) auf Englisch. Mit Blick auf sein Smartphone, das die Bilder von einem völlig zerstörten Charkiw zeigt, sagt er: „Im Moment sieht es nicht danach aus.“ Nach den ersten heftigen russischen Raketeneinschlägen entscheidet er mit seiner Frau Yana (39), die drei Töchter und seine Schwiegermutter aus der Gefahrenzone zu bringen. Sie lassen ein Bauunternehmen hinter sich, ein Haus, Eigentumswohnungen. Die Kinder verlassen ihre Freunde, ihr bekanntes Leben. Mit zwei Koffern, ihren Papieren und wenigen Kleidungsstücken steigen sie zu sechst in den Familien-SUV. Eine Woche führt der lange Weg sie mit vielen Staus quer durch die Ukraine an die Grenze zu Ungarn. Fast eine weitere Woche reist die Familie durch die Slowakei und Tschechien über Berlin und Hannover nach Frankfurt. „Wir haben eine Nacht im Hotel geschlafen, eine in einer Flüchtlingshalle, jeweils zu zweit auf einem Feldbett, sonst im Auto“, berichtet Yana Awad. Ihre Mutter Tamara (61) war noch nie aus Charkiw weg. Der ältesten Tochter Amira (18), die einzige in der Familie, die noch Englisch spricht, laufen die Tränen bei der Erzählung ihrer Eltern.

Am Frankfurter Hauptbahnhof hat die Familie Glück. Dort stehen Pia und Wolfgang Storm mit einem Schild in ukrainischer Sprache, dass sie für sechs Menschen Platz haben. Eine Flüchtlingsunterkunft bleibt den Ankömmlingen erspart. „Wir haben sie mit nach Hause genommen. Die ersten Tage haben sie viel geschlafen, weil die Flucht strapaziös war. Es ist eine nette Familie, rücksichtsvoll, leise und dankbar. Wir helfen gerne“, sagt Pia Storm, die den Eltern bei Behördengängen und Schulanmeldung zur Seite steht.

Was die hilfsbereite Buchschlagerin mit der Stadtverwaltung erlebt, empfindet sie als nicht sonderlich glücklich: „Ich habe mich von Anrufbeantworter zu Anrufbeantworter telefoniert. Der erste Anmeldetermin war für den 19. April geplant, obwohl sich die Flüchtlinge doch schnellstmöglich anmelden sollen“, berichtet sie. Der Termin wird nach dem Rückruf einer Mitarbeiterin korrigiert, Storm fährt mit der Familie zum Bürgerbüro. Die Behandlung dort sei nicht unbedingt freundlich und eher umständlich gewesen. „Ich finde das ein bisschen schade für die Menschen, die bei uns ankommen. Und auch für alle, die sich engagieren. Aber gut, jetzt haben wir ja alles erledigt“, schluckt Storm weiteren Ärger runter.

Die kleine Tochter ist in der Grundschule angemeldet, für die mittlere wird es wahrscheinlich einen Platz in einer Intensivklasse an der Weibelfeldschule geben und die Älteste kann ab dieser Woche beim Internationalen Bund einen Deutschkurs besuchen, berichtet Storm. Der Vater sucht mit seinen handwerklichen Fähigkeiten eine Arbeit. Bei einem Treffen von ukrainischen Flüchtlingen, zu dem die Familie Lenhardt in der vergangenen Woche auf ihren Bauernhof in Götzenhain eingeladen hatte, waren sie schon dabei: „Es tut sehr gut, sich mit den eigenen Landsleuten auszutauschen“, sagt Yana Awad.

Für Helfer und Gastgeber wie Pia Storm gibt es eine eigene WhatsApp-Gruppe in Buchschlag. Das klappt hervorragend: In diesem Moment klingelt es bei den Storms. Das Nachbarmädchen bringt für die jüngste Tochter Erika ein Mäppchen mit Stiften, damit der Schulstart gelingen kann.

Für Valeria Kubynych (35) waren die Voraussetzungen für eine Flucht nach Deutschland ein bisschen leichter: Die Mutter von zwei Kindern hat mit ihrer Cousine Olha Sytenko Familie in Offenthal. Kubynych war bereits vor 14 Jahren für ein Jahr in Sprendlingen als Au Pair, sie spricht Deutsch, kennt das Land. „Ich habe mit meinem Mann schon vor Kriegsbeginn darüber nachgedacht, was wir machen, wenn es zum Ernstfall kommt – obwohl wir es nicht für möglich gehalten haben“, berichtet sie. Als sie in der ersten Kriegsnacht aus Kiew Explosionen hört, ist für sie klar: Sie muss ihre Kinder in Sicherheit bringen. Ihr Mann fährt die Familie mit dem Auto an die polnische Grenze, sie brauchen zwei Tage. Dort holt sie ein Freund ihres Mannes ab, liefert sie mit den Kindern in Dreieich ab.

Bei der Mutter von Olha Sytenko ist es komplizierter. Sie will zunächst in der ukrainischen Heimat bleiben, sitzt tagelang in einer U-Bahnstation zum Schutz vor den immer heftiger werdenden russischen Bombenangriffen. „Wir haben sehr auf sie eingeredet, dass sie kommt. Sie hat sich dann doch mit einer Freundin einer Evakuierung angeschlossen. Ich bin erleichtert, dass sie jetzt hier ist. Ihre Stimmung ist sehr wechselhaft. In manchen Momenten ist es wie Urlaub, den sie jedes Jahr bei uns verbringt, im nächsten ist die Verzweiflung darüber groß, was gerade in unserer Heimat passiert“, erzählt Olha Sytenko. Für die Gastgeberin ist die Situation ebenfalls nicht leicht – drei eigene Kinder, voll berufstätig und jetzt ein volles Haus. „Aber wir hatten sehr viel Unterstützung aus Offenthal, die Hilfsbereitschaft ist riesig“, ist Olha Sytenko sehr dankbar.

Valeria Kubynych schmiedet schon Pläne, die junge Frau will keinesfalls untätig herumsitzen. Sie hat in der Ukraine ein Schönheitsinstitut, war bereits in Frankfurt zum Probearbeiten. Der kleine Sohn hat inzwischen einen Kindergartenplatz, die zehn Jahre alte Tochter ist mit Online-Unterricht aus der ukrainischen Schule beschäftigt. Natürlich haben sie alle große Angst um ihren Papa und Mann. „Ich hoffe so sehr, dass der Krieg bald aufhört. Wir alle wollen nach Hause. Wir hatten ein gutes, sehr komfortables Leben in der Ukraine, bevor dieser Wahnsinn begann“, sagt die Ukrainerin, die sich einen schnellen Frieden wünscht.

Von Nicole Jost

Die Cousinen halten in schweren Krisenzeiten zusammen: Olha Sytenko (rechts) und Valeria Kubynych.
Die Cousinen halten in schweren Krisenzeiten zusammen: Olha Sytenko (rechts) und Valeria Kubynych. © - Nicole Jost

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