Zwischen Zärtlichkeit und Zorn: Konstantin Wecker bei den Burgfestspielen Dreieichenhain

Es ist, als säßen gute Bekannte nach langer Zeit wieder mal an einem Tisch. Im ausverkauften Burggarten in Dreieichenhain beschließt Konstantin Wecker die Festspiele mit einem Konzert, das anfangs allenfalls Anklänge bietet an frühere Revoluzzer-Zeiten. Ein altersmilder, singender Poet verzückt die gut 850 Gäste am Sonntagabend mit Einblicken in sein Familienleben, grantelt liebevoll mit sich, der Gesundheit und anderen Widrigkeiten und entfacht im letzten Teil der bald drei Stunden dennoch ein wortgewaltiges Aufbegehren wider Krieg und Gewalt.
Dreieich - Gleich zu Beginn erinnert der 75-jährige Barde an seinen letzten Besuch auf der Burgbühne vor drei Jahren, im letzten Sommer vor Corona. Da hatte ein schweres Unwetter seinen Auftritt hinfortgefegt und mit dem Kunstgenuss gleich Tausende von Bäumen in den Wäldern ringsum. Ein bisschen erweckt auch Wecker den Eindruck, als seien diese drei Jahre nicht spurlos an ihm vorbeigeschlichen. Doch mehr noch als einer in Mitleidenschaft gezogenen Bandscheibe sind die vorwiegend leisen Lieder und sanften Töne im ersten Teil des Konzerts seinem schier endlosen Verlangen nach Zärtlichkeit geschuldet. Das klingt an beim Lied für sein erstes Kind, das zur Welt kam, als er 50 war, das schimmert durch in den Erinnerungen an das Gespräch mit dem Filius über die Schönheit der Schneeflocken und das nimmt auch das Publikum gefangen, als Wecker von seiner Goethe und Schiller rezitierenden Mutter spricht und von seinem Vater, mit dem er Sempre Libera aus Verdis La Traviata schmetterte, was vielen Besuchern im Burggarten bei einer eingespielten Aufnahme die ein oder andere Träne in die Augen treibt. Da allerdings gesellen sich an diesem Abend weitere hinzu, etwa beim 50 Jahre alten Liebeslied, bei dem er gerne mit seiner Geliebten auf fremden Balkonen sitzt und sich einfach ausbreitet in ihr.
Mag der erste Teil ein wenig zu sehr dem Gefühl und den Einsichten eines alten Mannes anheimgefallen sein, nach der Pause ersteht Wecker einmal mehr auf als singender Poet wider Krieg und Gewalt. Er erinnert an den Atomphysiker Hans-Peter Dürr, mit dem er friedensbewegt unterwegs war und dessen Worte, dass Materie nicht anderes sei als gefrorenes Licht. Sie waren Anlass für ein weiteres Werk. Eines von inzwischen fast unzähligen, für deren Zustandekommen Wecker eine ganz eigene Erklärung hat: „Poesie ist ein Geschenk. Es ist mein Glück, die Verse pflücken zu dürfen.“
Und die sind durchaus zornig, auch wütend, wie etwa in „Schäm Dich Europa“ aus dem jüngsten Album Utopia. „Was ist nur geworden aus den großen Gedanken? Jetzt sieht man sie allerorts doch wieder schwanken. Rassisten, Faschisten, wie konnt’s soweit kommen, haben in Parlamenten Sitze gewonnen.“ Ginge es nach Wecker, sollte die Angst alsbald in neuen Mut verwandelt und die Gewalt von Liedern voller Zärtlichkeit umschlungen werden. Nach drei Stunden und allerlei italienischen Gute-Nacht-Klängen als letzte Zugaben gehen Wecker und sein Publikum auseinander; wohl wissend, dass die Schönheit dem Zerbrechlichen gehört und absolut offen ist, ob nächstes Jahr wieder alle am Tisch sitzen werden.
Von Klaus Kühlewind
Burgfestspiele mit einer Auslastung von 83 Prozent
Es ist in Anbetracht der Umstände ein sehr gutes Ergebnis: 25 100 Besucher erlebten die 41 Vorstellungen der Festspiele vom 30. Juni bis zum 14. August. Das bedeutet eine Auslastung von 83 Prozent. Zum Vergleich: Im Rekordjahr 2019, der letzten Saison vor Corona, kamen 27 600 Besucher zu ebenfalls 41 Vorstellungen. Die Auslastung kletterte seinerzeit auf den Spitzenwert von 90 Prozent. Petrus meinte es gut (manchmal fast schon zu gut) mit den rund 240 Künstlern, den Zuschauern und dem Team um Festspielchef Benjamin Halberstadt. Nur dreimal regnete es während oder vor einer Aufführung, kein Auftritt musste unterbrochen werden. Allerdings sah der Spielplan 44 Vorstellungen vor, drei fielen wegen Corona aus: Das Saxofonquartett Sister Gold musste passen, ebenso wie das Ensemble der Burgfestspiele Bad Vilbel, das zweimal das Musical „Sister Act“ zeigen sollte. Schon im Frühjahr waren die beiden geplanten Auftritte von Eckart von Hirschhausen abgesagt worden – die Nachfrage war erstaunlicherweise gering. fm