Eltern verärgert: Schulamt möchte autistischen Jungen auf Regelschule schicken

Ein Viertklässler aus Eppertshausen soll auf Wunsch seiner Eltern nach der Grundschule auf die heilpädagogische Lukas-Schule in Mühltal gehen. Das Schulamt verwehrt dies aber.
Eppertshausen – Vor vier Jahren wurde beim jungen Eppertshäuser Simon Feiler Asperger-Autismus diagnostiziert. „Das ist die ,unsichtbare’ Form des Autismus“, sagt seine Mutter Nadine Feiler, „denn mit viel Übung und in entspannter Atmosphäre sieht man diesen Menschen ihren Autismus nicht an“. Von Entspanntheit kann in der Familie seit einiger Zeit aber keine Rede mehr sein.
Im Sommer steht für den Viertklässler der Wechsel von der Eppertshäuser Stephan-Gruber-Grundschule auf die weiterführende Schule an – und damit eine Zäsur. Die für das Kind ohnehin komplizierte Veränderung wird aus Sicht seiner Eltern durch das Staatliche Schulamt in Darmstadt erschwert, das Simons Besuch auf der gewünschten Förderschule ablehnt. Stattdessen soll er mit der Münsterer Schule auf der Aue weiter eine Regelschule besuchen. Seine Mutter spricht von „Zwangsinklusion“ und fürchtet für ihren Sohn schlimme Folgen.
Routine für Viertklässler aus Eppertshausen sehr wichtig – Mutter erklärt Situation
„Menschen wie Simon leben in einer von Umwelteinflüssen ungefilterten Welt und sehen sich somit nonstop einem unglaublich hohen Stresspegel ausgesetzt“, bringt sie den Asperger-Autismus jenen näher, die sich damit nicht auskennen. Zusätzlich sei es Autisten „nur durch sehr viel Übung möglich, sich in einer sozial geprägten Welt ,normal’ zu verhalten“. So müssten beispielsweise Ironie und das Lesen der Gesichtsmimik trainiert werden. Und vieles Weitere, bei dem sich in Abgrenzung dazu die Mehrheit der „neurotypischen Menschen“ instinktiv zurechtfinde. „Als Neurotyp kann man sich nur ansatzweise vorstellen, welch bedrohlicher und anstrengender Alltag draußen auf einen Autisten wartet“, versucht Nadine Feiler Verständnis zu schaffen.
In Simons Fall produziert der Körper zudem zu wenig vom Schlafhormon Melatonin, was zu Übermüdung führt und beim Eppertshäuser nur medikamentös kompensiert werden kann. „Auch Essen ist bei Autisten ein Thema, denn sie empfinden Geschmäcke und Konsistenzen anders beziehungsweise intensiver“, sagt Feiler. Oft beschränkten sich Autisten auf ein Minimum an Speisen, „sodass sie sicher sind, dass sie es essen können und außerdem die Sicherheit der Gewohnheiten haben“.
Gerade das große Maß an Routine sei auch für ihren Sohn sehr wichtig, betont Feiler. „So hat er wenigstens ansatzweise die Kontrolle.“ Was Simon auch auf der Eppertshäuser Gruber-Schule, in der ihm das Anrecht auf Nachteilsausgleiche und eine Schulbegleitung das Leben erleichtern, recht gut gelinge. „Jedoch sprechen wir hier über die Grundschule – und ehrlich gesagt merken wir massiv den gestiegenen Leistungsdruck von der dritten zur vierten Klasse“, sagt seine Mutter.
Familie aus Eppertshausen würde Sohn gerne auf heilpädagogische Schule schicken
Mittlerweile ist hinsichtlich des Ortswechsels zum Schuljahr 2022/23 in der Familie die Überzeugung gereift, „dass es nach der vierten Klasse dann auch gut ist mit der Inklusion“. Simon leide unter etlichen Dingen, vor denen er an einer Regelschule – auch in einer Inklusionsklasse, wie sie die Münsterer Aue-Schule biete – nicht geschützt sei: „Schon ein Sitzplatzwechsel ist ihm nur unter massivem Stress möglich und blockiert ihn so nachhaltig, dass er dem Unterricht nicht mehr folgen kann. Kommt ein neuer Lehrer, weil ein anderes Fach gelehrt wird, oder findet unangekündigter Vertretungsunterricht statt, muss Simon oft das Klassenzimmer verlassen, um sich auf die neue Situation einstellen zu können. Kommt er in seine Klasse zurück, sind die anderen Kinder schon im Lernstoff drin und Simon hat eigentlich keine Chance mehr, den Anschluss an die Stunde zu finden.“ Daraus resultierend störe er den Unterricht, versuche die Kinder abzulenken oder werde aus Frust über sich selbst aggressiv. Auch die Lautstärke einer großen Klasse sei für ihn ein Problem. „Es lenkt ihn von dem ab, was er bearbeiten will.“
Seit geraumer Zeit macht Simon keine Hausaufgaben mehr. „Weil er es nicht mehr schafft nach dem Schultag“, wie seine Mutter beschreibt. „Er ist dann so fertig, dass ich ihn nicht mehr dazu bringen kann, ohne einen Wutanfall zu provozieren.“ Das klappe in der Grundschule noch, „weil er intelligent genug ist, den Stoff trotzdem anwenden zu können“. Das aber, so die Erwartung der Familie, werde sich „auf der weiterführenden Schule ändern. Spätestens, wenn noch weitere Fächer dazu kommen und der Leistungsdruck noch mehr ansteigt.“
Deshalb habe sie „die große Hoffnung, das Projekt Regelschule nun noch positiv beenden zu können, solange es bei Simon keine bleibenden Schäden hervor gerufen hat“. Nach zweijähriger Recherche ist sich Nadine Feiler sicher: Die Lukas-Schule in Mühltal – eine heilpädagogische Schule auf Grundlage der Waldorf-Pädagogik mit den Förderschwerpunkten Lernen und sozial-emotionale Entwicklung – ist ab der fünften Klasse die richtige für ihren Sohn.
Schulamt lehnt Wunsch-Schule ab: Familie beklagt „Zwangsinklusion“
„Ich war so unglaublich erleichtert, als es dort hieß, man könne sich gut vorstellen, Simon aufzunehmen“, berichtet sie und führt aus, was die Schule für ihn so geeignet mache: „Sie startet mit einer sehr kleinen Klassengröße von fünf bis sieben Kindern. Es besteht ein fester Klassenverband, in dem die Kinder bis zur 12. Klasse die Möglichkeit haben, ihren Haupt- oder Realschulabschluss zu machen. Begleitet werden sie dabei von speziell geschultem Personal. Fächer mit praktischer Tätigkeit lockern den Schulalltag auf und die Kinder schaffen es sich immer wieder zu entspannen.“ In der Lukas-Schule, da ist sich Feiler sicher, „werden die Kinder lebensfähig entlassen – und genau das ist auch der Wunsch von uns Eltern für Simon“.
Vor wenigen Wochen hat das Schulamt in Darmstadt genau diesen Wunsch der Familie aber abgelehnt. Zur Begründung heißt es in einem Schreiben der Fachberatung Sonderpädagogik an Nadine Feiler unter Verweis auf einen Erlass des Hessischen Kultusministeriums, dass im Fall von Simon Feiler „kein Anspruch auf sonderpädagogische Förderung“ festgestellt werden könne. Zum einen sei seine schulische Inklusion an der Eppertshäuser Gruber-Schule und damit in der Regelschule mithilfe der Teilhabeassistenz „erfolgreich“ gewesen. Zum anderen fordere der Erlass des Kultusministeriums „eine deutliche Beeinträchtigung der Lernentwicklung“, die bei Simon nach Wissen der Schulamts-Fachberaterin nicht vorliege. Die Autismus-Diagnose allein reiche nicht aus.
Da auch der Austausch der aufnahmebereiten Lukas-Schule mit dem Schulamt keine Lösung schuf, müsste Simon zum jetzigen Stand ab Sommer unverändert auf eine Regelschule gehen. Noch hofft seine Mutter auf die Gesprächsbereitschaft des Schulamts und eine gütliche Einigung. Eine juristische Klage sei derzeit noch nicht möglich, weil sie vom Schulamt bislang nur die ablehnende E-Mail, aber keinen offiziellen Ablehnungsbescheid erhalten habe.
„Es ist ein Trauerspiel“, fasst Nadine Feiler die anstrengende Lage zusammen. Die Familie sei mit den Kräften am Ende und mache sich immense Sorgen, die von Mobbing gegenüber ihrem Kind bis zur Suizidgefahr reichten. Deshalb steht ihre klare Aussage: „Wir wollen nicht, dass Simon in einer aufgezwungenen Inklusion zugrunde geht!“ (Jens Dörr)