Critical Mass: Mobil machen für Verkehrsrechte

Frankfurt - Schon in drei hessischen Städten haben sich Radler zusammengeschlossen, um per Bürgerentscheid mehr Investitionen in den Fahrradverkehr durchzusetzen. Dazu zählt auch Frankfurt. Dort setzt sich zweimal im Monat ein kunterbunter Demonstrationszug in Gang. Von Isabell Scheuplein und Ira Schaible
Lautes Geklingel schallt über den Platz vor der Alten Oper Frankfurt. Auf Rennrädern, Mountainbikes, Liegerädern und normalen Drahteseln kreisen 150 Radler um den Brunnen und scheren von dort in Richtung Straße aus. Die Critical Mass (Kritische Masse) ist in Hessens größter Stadt unterwegs. Ziel ist, für einen Platz als ebenbürtige Verkehrsteilnehmer zu demonstrieren. Rad-Demo, Radentscheid und Aktionen gegen Parken auf Radwegen – landesweit formieren sich Radler und fordern in verstopften Innenstädten ihre Rechte ein.
„Radler erobern immer stärker die Städte für sich“, sagt der Frankfurter Trend- und Zukunftsforscher Andreas Steinle. „Nach Jahrzehnten der Autofixiertheit wird das Rad zum Ausdruck eines neuen Lifestyles, der für Sportlichkeit, Gesundheit und ökologisches Bewusstsein steht.“ Außerdem sei das Rad in verstopften Ballungsräumen immer öfter das schnellere Fortbewegungsmittel. Steinle: „Je mehr sich das Rad als überlegenes Fortbewegungsmittel und Statussymbol herausstellt, desto stärker formieren sich die Radfahrer als gesellschaftliche Bewegung.“

Angesichts der schlechten Luft in Städten – Feinstaub und Stickoxide – stießen die Radler auch auf offene Ohren in der Politik. Für viele Städte sei Kopenhagen bereits das Vorbild, wo es inzwischen mehr Fahrräder als Einwohner gebe und damit die Hälfte des Berufsverkehrs zurückgelegt werde, berichtet Steinle. Bei der „Critical Mass“ in Frankfurt postieren sich erfahrene Teilnehmer mit ihren Rädern an den Ampeln vor den Autos. „Korken“ heißt das. Hintergrund ist ein Passus im Verkehrsrecht, wonach mindestens 16 Fahrräder einen geschlossenen Verband bilden können. Ist diese kritische Masse erreicht, dürfen sie nebeneinander auf der Straße fahren und Autos und Lastwagen ausbremsen, bis ihr Demonstrationszug vorbeigerollt ist.
Wolfgang Hepp hat mit seinem Liegerad kaum eine Zusammenkunft verpasst. Es gehe darum zu zeigen, „dass wir Radfahrer auch da sind, dass wir auch Verkehrsteilnehmer sind und Platz brauchen“, sagt der 60-Jährige. Der Radverkehr sei stark gestiegen, der Ausbau der Radwege aber nicht. Um Fahrrädern Raum zu geben und Radeln sicherer zu machen, schließen sich in vielen Großstädten Menschen zusammen und fordern Politiker zum Handeln auf – oft unabhängig von Allgemeinem Deutschem Fahrrad-Club, Radbeauftragten und Radbüros. „Früher haben sich vor allem Radfahrer für Radfahrer engagiert. Jetzt sind es auch Leute, die den Radverkehr als Mittel zum Zweck für mehr Lebensqualität verbessern wollen“, sagt Katja Täubert vom Verkehrsverband VCD.
Vorreiter in Hessen ist Darmstadt: Die Initiatoren übergaben dem grünen Oberbürgermeister Jochen Partsch Anfang Mai fast 11.300 Unterschriften zu sieben konkreten Forderungen. Das waren mehr als drei Mal so viele wie für ein Bürgerbegehren notwendig. Seitdem liegt der Ball im Rathaus. In der Stadt gibt es außerdem regelmäßig Mahnwachen, wenn ein Radler im Verkehrsgeschehen ums Leben gekommen ist.
In Frankfurt läuft die Unterschriftensammlung beim Radentscheid auf Hochtouren. Die Initiative will Radeln zum Massenphänomen machen. 15.000 Unterschriften brauchen die Organisatoren, damit sich die Stadtpolitik mit ihren sieben Forderungen befassen muss. Nächste Stufe wäre ein Bürgerentscheid, über den nach Willen der Organisatoren auch in Darmstadt zusammen mit der Landtagswahl am 28. Oktober abgestimmt werden könnte. Das Frankfurter Verkehrsdezernat erklärt nach einem Gespräch mit den Initiatoren, man stehe dem beobachtend gegenüber.
Mit ungewöhnlichen Aktionen macht der ADFC in Frankfurt auf sich aufmerksam: Mitglieder stellten kurzerhand Plastikhütchen auf einen Radweg an der Obermainanlage, um ihn von parkenden Autos frei zu halten. Ziel sei, den Kommunen zu zeigen: Radwege müssten besser geschützt werden. Mit einfachen Plastikmarkierungen sei dies möglich. „Wir hoffen, dass das auch an anderen Orten Schule machen wird“, sagt Norbert Sanden vom ADFC Hessen. „Es fahren mehr Menschen Rad, gleichzeitig gibt es mehr Autos, und die werden größer. Radler müssen sich lauter und deutlicher positionieren, sonst bleiben sie an den Rand gedrängt.“
In Kassel will eine Gruppe von 30 Aktiven ebenfalls einen Radentscheid herbeiführen. „Immer noch sind Radwege zu schmal, hören einfach auf, sind zugeparkt oder nicht gut gekennzeichnet“, erklärt die Initiative. Sie sammelt Geld und will ihre Forderungen bis Mitte Juni ausformulieren. Nach einer rechtlichen Prüfung soll es ab Sommer eine Unterschriftensammlung geben. Am Samstag hat auch die Klima-Aktion Stadtradeln begonnen. Noch bis zum 22. Juni treten Politiker und Bürger in die Pedale, um Kohlendioxid-Emissionen einzusparen. Mit dabei sind Offenbach und Mühlheim. (dpa/mt)