19. FEBRUAR 2020: Schülergruppe besucht Ausstellung / Viele neue Erkenntnisse

Auf dem großen Bildschirm bewegen sich farbige Halbkreise. Neben ihnen jeweils zwei Initialen. Sie stehen für den Vor- und Nachnamen der Opfer des Attentats vom 19. Februar 2020 in der Arena-Bar. Die animierte Visualisierung, eine Rekonstruktion der Ereignisse der Schreckenstat, soll verdeutlichen, dass mutmaßlich mindestens drei der Opfer hätten gerettet werden können, wäre der Notausgang der Bar nicht verschlossen gewesen.
Hanau – Das zehnminütige Video ist Teil der Ausstellung „Drei Jahre Erinnerung und Aufklärung“, die derzeit im Neustädter Rathaus zu sehen ist.
„Diese Ausstellung kann Augen öffnen. Vor allem für Menschen, die in dem Thema noch nicht so drin sind“, sagt Melike Caliskan. Die 18-Jährige ist Schülerin an der Offenbacher Theodor-Heuss-Schule, einem beruflichen Gymnasium. Zusammen mit Geschichtslehrer Thorsten Braun besucht sie mit dem Grundkurs Geschichte, Kursklasse 12, die Ausstellung.
In Stuhlreihen sitzt der Kurs vor dem Bildschirm, in den Gesichtern der jungen Menschen ist abzulesen, wie bewegt sie von dem sind, was sie eben gesehen haben. „Das Nachstellen der Situation in der Arena-Bar, die Tatsache, dass Menschenleben hätten gerettet können. Das war mir so nicht bewusst“, sagt die Oberstufenschülerin Michelle Tatum. Sie habe einige neue Erkenntnisse bekommen und will sich die Ausstellung ein weiteres Mal anschauen – und auch weiterempfehlen. „Ich wusste zum Beispiel auch nicht, dass der Vater rassistische Züge hat. Und das mit dem Notruf, das kann ich so gut nachvollziehen, das ist mir auch schon passiert.“
Dreimal hintereinander, so berichtet die Schülerin, habe sie einmal bei der Polizei den Notruf angerufen „und kam nicht durch. Am Abend auf der Polizeiwache hieß es dann, ‘wir haben den Anruf bekommen. Es war aber gerade etwas anderes zu tun’“. In Hainburg sei das gewesen. „Das zeigt, dass die Polizei nicht immer Zeit hat“, sagt sie.
Die Schüler nehmen an einer Führung, geleitet von Cetin Gültekin, dessen Bruder Gökhan bei dem Attentat ermordet wurde, und Hagen Kopp, von der Initiative 19. Februar, teil. Die Ausstellung ist ein Kooperationsprojekt der Initiative, des Ermittlungsinstituts Forensic Architecture/Forensis, dem Haus der Kulturen der Welt in Berlin und dem Frankfurter Kunstverein. Die Schau war auch schon in Berlin und Frankfurt zu sehen.
Es war die Schülerin Melike Caliskan, die mit der Idee des Ausstellungsbesuchs an ihren Lehrer Thorsten Braun herantrat. „Ich war sofort offen dafür und verbinde den Besuch mit dem Imperialismus, den wir derzeit durchnehmen, da ist Rassismus ja auch Thema“, erklärt der Geschichtslehrer. Auch an der Schule werde der 19. Februar derzeit wieder thematisiert, es liege etwa ein Kondolenzbuch aus, das der Initiative 19. Februar überreicht werden soll und es wird eine Schweigeminute geben.
Melike, die sich aktiv in der Grünen Jugend Offenbach engagiert, dort als Schatzmeisterin tätig ist, sagt, dass sie sich viel mit Diskriminierung beschäftige. Auf der Landesmitgliederversammlung habe sie Bürger aus Hanau kennengelernt, sich mit diesen ausgetauscht, dabei sei ihr der Besuch der Ausstellung empfohlen worden. Nun habe sie auch Kontakt zu den Mitgliedern der Bildungsinitiative. „Es ist so wichtig, dass das Thema Alltagsrassismus gezeigt wird, dass dafür sensibilisiert wird“, sagt sie. Die Ausstellung habe sie erstmals im vergangenen Jahr in Frankfurt gesehen, vergangene Woche die in Hanau und den Besuch dann ihrem Lehrer vorgeschlagen.
„Ich finde die Ausstellung nach wie vor faszinierend – ich wusste vorher ganz viele Sachen nicht. Zum Beispiel, dass das Ordnungsamt den verschlossenen Notausgang in der Arena-Bar schon in den Dokumenten hatte.“
Die Ausstellung erachtet Melike auch deshalb als so besonders, „weil sie so viele Informationen preisgibt, die die Politik und die Ämter nicht preisgeben. Es ist wirklich sehr aufklärend und berührend. Man sollte sie sich anschauen. Alle. Um einen anderen Blick auf die Tat bekommen.“
Die junge Grünenpolitikerin formuliert eine deutliche Forderung: „Ich finde es sehr kritisch, dass man sich nicht entschuldigt als Abgeordneter, wenn man so viel Staatsversagen im Rechtsstaat sieht. Ich fordere generell Sensibilität von den Politikern im Landtag, egal aus welcher Fraktion. Und ich fordere Gerechtigkeit bei rassistischen Anschlägen, Hanau ist ja kein Einzelfall. Siehe NSU, Lübcke, wir haben es so oft gesehen und ich finde, es sollte ein Thema sein, wo sich Politiker hinstellen und sagen "ok, so etwas gibt es" und man entschuldigt sich dafür und akzeptiert es und widerspricht nicht den Beweisen.“
Das prangert auch Cetin Gültekin an: „Es gab nie eine Entschuldigung der Polizei“, erklärt er der Schülergruppe. „Es wurden keine Fehler zugegeben. Deshalb sind wir selbst zu Ermittlern geworden. Man muss sich das vorstellen, obwohl nach dem Attentat bekannt war, dass es keinen Überlauf beim Notruf gab, hat es weitere zwei Jahre gedauert, bis etwas geändert wurde. Vili hat in der Nacht, in der er den Attentäter verfolgt hat, nicht etwa seinen Vater oder einen Freund angerufen. Nein, er hat den Notruf gewählt. Vili hat an diese 110 geglaubt.“
Die Ausstellung untermauere, dass die Hinterbliebenen viel zur Aufklärung beigetragen haben, sagt Schülerin Franklina Akoto: „Man hat ja schon viel mitbekommen durch die Medien, die viel aufgedeckt haben. Aber heute hier hat man auch noch mal gesehen, dass die Familienangehörigen eigentlich das Meiste aufgedeckt haben. Ihnen sind die ganzen Infos zu verdanken. Ich habe heute sehr viel mitgenommen, beispielsweise das mit dem Notausgang. Und die Nachstellung in der Arena-Bar. Das war krass zu sehen. Drei Leben hätten gerettet werden können. Es zeigt, wie viele Fehler das System hat und dass es Leute braucht, die sich dafür einsetzen.“
Ihrer Mitschülerin Mawa Ahmadi sei der Fall zwar ziemlich bekannt gewesen, wie sie sagt, „aber nach dem Besuch heute ist mir einiges klar geworden. Es haben ja viel mehr Sachen dahinter gesteckt, zum Beispiel die Einflüsse durch den Vater, der Rassismus, die Vertuschungen der Staatsanwaltschaft. All das hat mich heute ziemlich aufgeklärt und ich habe Gänsehaut bekommen an ein paar Stellen. Ich kann nur sagen, dass ich einen riesen Respekt habe vor den Hinterbliebenen.“
Laut Hagen Kopp haben bisher rund 1000 Menschen die Ausstellung besucht. Noch bis zum 18. März wird die Schau im Erdgeschoss des Neustädter Rathauses bei freiem Eintritt gezeigt.
Von Kerstin Biehl