Zeitzeuge erinnert sich an den verheerenden Luftangriff auf Hanau am 19. März 1945

Noch heute kehren die schrecklichen Bilder manchmal in seinen Träumen zurück, berichtet Werner Seeger. Der 88-Jährige ist einer der letzten Zeitzeugen des verheerenden Luftangriffs, bei dem Hanau am 19. März 1945 fast völlig zerstört wurde. Über 2000 Menschen starben.
Hanau – Die Nächte, in denen die Familie zwei- bis dreimal wegen Fliegeralarm aus dem Schlaf gerissen wird. Die Bilder, wie er hektisch, nur mit Trainingsanzug und Mantel bekleidet die Treppe zum Luftschutzraum herunterstürzt. Menschen, die mit Mundschutz und unter Decken im Keller kauernd von den Druckwellen der Bomben durchgeschüttelt werden. Die Todesangst. Manchmal ist das alles wieder da. Im Traum. 78 Jahre danach. Die Erinnerung an die Luftangriffe lässt Werner Seeger nicht los. Der 88-Jährige ist einer von nur noch wenigen lebenden Zeitzeugen des 19. März 1945 in Hanau. In mehreren Büchern („Wir Kriegskinder“) wurden ihre Traumata beschrieben. Er sei einer der Betroffenen, schreibt Seeger in Erinnerungen, die er zu Papier gebracht hat.
Ein Jahr vor Kriegsbeginn war der damals Dreijährige mit seinen Eltern von Hamburg-Harburg nach Hanau gezogen. Der Vater war bei der Firma Dunlop für die Fertigungsplanung zuständig. Bald bezog man eine Dreizimmerwohnung in einer neuen, von der Baugesellschaft errichteten Siedlung am Kinzigheimer Weg.
„Ab 1941 und 1942 gab es zunehmend Fliegeralarm“, berichtet Seeger. Weil der Luftschutzkeller im Haus nicht sicher genug erschien, rannten die Bewohner bei Fliegeralarm oft über einen Acker, suchten in einem Getreidesilo am Hafenbecken Zuflucht. „Eines Nachts gab es einen Volltreffer in dem Gebäude“, so Seeger. Zum Glück blieb die Bombe im Getreide stecken. „Bei einem weiteren Angriff wurde ein Nachbarspeicher getroffen und brannte aus. Ein Frachtschiff aus Holland versank im Hafenbecken.“ Vorboten des kommenden Chaos.
„Mit den geriebenen Äpfeln wurde ich wieder aufgepäppelt“
Im Winter 1942/1943 erkrankte Werner Seeger. Er war damals acht Jahre alt. Erst Masern, dann Scharlach und Mumps, später sogar die Ruhr. Irgendwie gelang es, einen Bezugsschein für einen Zentner Äpfel zu bekommen. „Mit den geriebenen Äpfeln wurde ich wieder aufgepäppelt“, erzählt er.
Dann kam der schwere Bombenangriff vom 12. Dezember 1944. Seeger: „Es war schönstes Sonnenwetter.“ Nach dem Voralarm konnte man damals „aus dem Volksempfänger ein Weckerticken hören, das bei einer Unterbrechung immer wieder die neueste Luftlagemeldung brachte“. Hanau sei stets mit der Ansage „Feindliche Bomberverbände im Anflug in Richtung Quelle-Siegfried-7“ gewarnt worden.
Bei dem Angriff um 12.12 Uhr (Seeger: „Alle Zentraluhren blieben genau zu dieser Zeit stehen.“) wurden durch die Druckwellen von Luftminen, die in der Nähe niedergingen, die Ziegel vom Dach des Hauses gerissen, in dem Werner Seeger mit seiner Familie wohnte. Alle Fenster in der Wohnung waren zerstört.
Mit drahtverstärkter Folie wurden die Fenster abgedichtet. „Dünne Holzplatten dienten abends als Verdunkelung und Wärmeschutz“, so Seeger im Gespräch mit unserer Mediengruppe.
Das elterliche Schlafzimmer und das Wohnzimmer waren schwer beschädigt und nicht mehr nutzbar. „Wir konnten nur noch in der gut zu heizenden Küche leben.“ Im Zimmer von Seeger wurde geschlafen. Vater Wilhelm bekam ein Bett, Werner schlief mit seiner Mutter im zweiten.
„Alle Bewohner waren tot. Von der damaligen Gastgeberin wurde nur ein Haarknoten mit Haarnadeln gefunden“
Später erzählt Werner Seeger von einem Besuch bei der Familie eines Arbeitskollegen des Vaters an den Weihnachtstagen 1944 in Steinheim. Wenige Tage danach kommt die Nachricht, dass das Haus von einer Bombe getroffen wurde. „Alle Bewohner waren tot. Von der damaligen Gastgeberin wurde nur ein Haarknoten mit Haarnadeln gefunden“, so Seeger.
Dann kam der 19. März 1945. Der dunkelste Tag in Hanaus Geschichte. Und wieder war da ein Traum. Die Mutter wacht im Morgengrauen auf, erzählt ihrem Mann, sie habe gerade geträumt, dass auf dem Dachboden des Hauses Bomben eingeschlagen seien. „Nun träumst du schon nachts davon“, soll er gesagt haben.
Das Inferno in Hanau begann mit einem lauten Knall
Kurz darauf bricht das Inferno los. Es beginnt mit einem heftigen Knall, so Werner Seeger. „Die Holzplatte flog aus dem Fenster. Draußen war es taghell. Grund waren die vielen ‘Christbäume’ , das waren Leuchtmarkierungen, die die Ziele für die feindlichen Bomber markierten.“ Werner Seeger rennt in den Keller. Im Trainingsanzug und im Mantel. Nach und nach treffen alle Hausbewohner ein. Das Bombardement, das um 4.20 Uhr begonnen hatte, dauerte keine 20 Minuten. „Mit Mundschutz und unter Wolldecken wurde man durchgeschüttelt, der Kellerboden hob und senkte sich durch die Druckwellen“, beschreibt Werner Seeger die Minuten von blanker Angst „und der Hoffnung, dass man den Angriff lebend überstehen würde“.
Schließlich herrscht vollkommene Ruhe. Die Tür zum Schutzraum wird aufgerissen. Der Hauswart meldet, dass die Wohnung brennt. „In die Küche und ins Kinderzimmer waren Stabbrandbomben geflogen.“ Damit konnte er seine Briefmarkensammlung, die er am Vorabend aus dem Keller geholt hatte, vergessen, denkt Werner Seeger. Es sind mitunter merkwürdige Gedanken, die einen in höchster Not überkommen. Aber die Familie lebt. Mehr als 2000 andere Hanauer sterben bei dem verheerenden Luftangriff.
Zur Person: Werner Seeger
Werner Seeger wurde am 2. Dezember 1934 geboren. Nachdem die Familie in Hanau ausgebombt wurde, fand sie zunächst in Kälberau im Spessart Zuflucht. 1946 zog sie nach Osterode im Harz. Drei Jahre später kehrte sie zurück, als der Vater bei der Hessischen Gummiwarenfabrik („Gummi Peter“) in Klein-Auheim eine Stelle annahm.
Werner Seeger machte bei der Druckerei Illert in Steinheim Karriere, war als Prokurist für den Außendienst zuständig. Später war er selbstständiger Handelsvertreter. Werner Seeger fungierte auch als Vorsitzender des Hanauer Ruderclubs Hassia.
Mittlerweile wohnt er mit seiner Frau in Bad Salzuflen. cs.
Mit Fahrrädern und Anhängern fahren die Seegers später los. Koffer mit Bekleidung und Bettzeug für drei Personen wurden sorgfältig festgezurrt, schreibt Seeger. Wie viele andere auch flüchtet die Familie nach Alzenau. Dort findet sie aber keine Bleibe. Ein Stück weiter, in Kälberau, bietet eine Bäuerin ein Zimmer an. „Sie hatte wohl vor allem Mitleid mit mir“, sagt Werner Seeger. Kälberau war die erste Station in einem neuen Leben.
(Von Christian Spindler)