Auf der Suche nach Gerechtigkeit nach Hanauer Anschlag

Fast zwei Jahre ist der rassistische Anschlag von Hanau her. Im Untersuchungsausschuss des Landtags haben jetzt die Hinterbliebenen das Wort. Sie fühlen sich mit ihren Fragen alleingelassen.
Wiesbaden – Vor dem Eingang des Landtags stehen die Familienmitglieder an diesem Morgen Schulter an Schulter. Mütter, Väter, Schwestern und Brüder. Jeder hält ein Foto in den Händen. Es sind jene Bilder, die seit dem 19. Februar 2020 um die Welt gingen.
Erste Zeugin dieses Acht-Stunden-Tages ist Vaska Zladeva. Die 36-Jährige ist die Cousine von Kaloyan Velkov. Velkov wurde in der Bar „La Votre“ am Hanauer Heumarkt, dem ersten Tatort, erschossen. Die beiden wachsen gemeinsam in Bulgarien auf, ihre Väter sind Brüder. „Kaloyan hat mich Schwester genannt“, erzählt Zladeva. Eine Dolmetscherin übersetzt ins Deutsche. Zladeva, alleinerziehende Mutter, lebt mit ihren Kindern in einem Haus in Erlensee.
Untersuchungsausschuss zum Anschlag in Hanau: „Habe ihm empfohlen, nach Deutschland zu kommen“
2018 ziehen hier auch Kaloyan, seine Familie und seine Mutter ein. Frau und Sohn kehren wenig später nach Bulgarien zurück, Kaloyan und seine Mutter bleiben. „Ich habe ihm empfohlen, nach Deutschland zu kommen, hier Geld zu verdienen“, sagt die Zeugin. „Ohne ihn und die gegenseitige Unterstützung hätte ich es nicht geschafft, mit meinem Job am Frankfurter Flughafen.
Velkov arbeitet als LKW-Fahrer, ist in ganz Europa unterwegs. Er sei gern zur Arbeit gegangen, sagt seine Cousine. Velkov jobbt nebenher im „La Votre“ in Hanau. 50 Euro bekommt er pro Tag. Auch am 19. Februar ist der 33-Jährige dort. Um 21.46 Uhr telefonieren die beiden zum letzten Mal. Zladeva erinnert sich noch genau an Velkovs letzte Worte: „Leg dich, Schwester, du musst morgen früh aufstehen.“
Untersuchungsausschuss zum Anschlag in Hanau: Cousine versuchte 20-mal ihn zu erreichen
Um Mitternacht klingelt das Handy der zweifachen Mutter. Ein Kollege vom Flughafen ist am anderen Ende der Leitung. Acht Leute seien in Hanau erschossen worden, erzählt er. „Ich habe versucht, Kaloyan anzurufen, bestimmt 20-mal, aber er ist nicht ans Handy gegangen.“ Zladeva ruft ein Taxi und fährt nach Hanau, ihre Tante im anderen Stockwerk darunter lässt sie schlafen. Gegen 0.30 Uhr kommt die 36-Jährige am Heumarkt an. Hört Menschen schreien, weinen.
Sie versucht weiter Kaloyan zu erreichen, die Polizei habe sie und ihre Nachfragen ignoriert. Mehrere Stunden wartet sie am Tatort, um 4.30 Uhr wählt sie die 112, sagt, dass sie ihren Cousin sucht. Nennt seinen Namen, und wird dann zur Turnhalle der Polizei im Lamboyviertel geschickt. Auch hier Polizei, Krankenwagen und viele Menschen, die sie später als Angehörige der anderen acht Opfer kennenlernen wird. Bis 6.30 Uhr warten sie. Dann kommt ein Polizist, der die Namen der Ermordeten verliest. „Alle haben geweint. Es war fürchterlich.“
Untersuchungsausschuss zum Anschlag in Hanau: Nummer ist dauerbesetzt
Die Nummer, bei der Zladeva sich ab 8 Uhr melden soll, ist dauerbesetzt. Sie fährt zurück nach Erlensee, berichtet ihrer Tante von Verletzungen, verschweigt aber, dass Velkov tot ist. Zusammen fahren sie nach Hanau, eine Polizistin hilft, der Mutter die Nachricht zu überbringen.
Obwohl Velkov Papiere und seine Krankenkarte bei sich hat, wird ein DNA-Abgeleich mit seiner Mutter gemacht. Erst fünf oder sechs Tage später dürfen sie seinen Leichnam bei der Polizei in Mühlheim sehen. „Erst da haben wir geglaubt, dass er wirklich tot ist.“ Dass Velkov von sechs Kugeln getroffen wurde, erfährt sie nur, weil sie einen Mitarbeiter im Leichenschauhaus fragt. Erst am 29. Februar findet die Beerdigung in Mesdra in Bulgarien statt. Vaska Zladeva und ihre Kinder bleiben allein in Erlensee, Velkovs Mutter zieht wenig später zurück nach Bulgarien. Sie verliert ihren Job am Flughafen, fühlt sich allein gelassen. Nur Hanaus Oberbürgermeister Claus Kaminsky und der Ausländerbeirat seien gekommen, um ihr Beileid auszusprechen. Erlensees Stadträtin Birgit Behr hilft ihr, eine neue Wohnung und eine neue Arbeit zu finden. „Wäre sie nicht gewesen, ich hätte es nicht geschafft.“
Untersuchungsausschuss zum Anschlag in Hanau: Warum hat niemand gehandelt?
Wie konnte das passieren? Warum hat niemand gehandelt, obwohl der Täter in der Woche zuvor Ankündigungen im Internet veröffentlicht hat? Warum wurde Karolyan erst 25 Minuten nach dem Eintreffen der Polizei gefunden? Warum wurden wir erst fünf oder sechs Tage später zu ihm gelassen?
Sie habe das Vertrauen in die deutsche Polizei verloren. „22 Monate danach möchte ich, das meine Fragen beantwortet werden. Aber es gibt keine Antworten. Ich möchte Gerechtigkeit, die Wahrheit wissen“, sagt sie.
Marius Weiß fragt, ob die Familie ihre Zustimmung zu einer Obduktion erteilt hat, ob sie überhaupt gefragt wurde. „Nein“, sagt Vaska Zladeva. Genauso erging es Hayrettin Saraçoglu. Er erzählt im Anschluss detailliert, wie ihm vor wenigen Wochen Gewebeproben seines ermordeten Bruders Fatih ausgehändigt worden seien. Sie waren nach der Obduktion in der Rechtsmedizin zurückgeblieben. Er habe diese sterblichen Überreste persönlich in die Türkei gebracht, um sie dort zu bestatten. Er habe sich in dieser Situation wirklich sehr einsam gefühlt, sagt der 45-Jährige. Im Landtag herrscht Schweigen. (Yvonne Backhaus-Arnold)
Zuletzt hat die Staatsanwaltschaft Ermittlungen wegen unterlassener Hilfeleistung der Polizei in der Terrornacht von Hanau abgelehnt.