Zeuge berichtet via Skype über sein Martyrium in der Hanauer Sekte

Novum vor dem Hanauer Schwurgericht: Ein Leidensgenosse des vierjährigen Jan H. berichtet via Skype über sein Martyrium.
Hanau – Es sind abscheuliche Details, über die der 40-Jährige berichtet. „Ich war im Vergleich zu den anderen Kindern weniger wert.“ Damals, um das Jahr 1986, haben sich seine Eltern dem Kreis einer obskuren, sektenähnlichen Gruppierung in der Hanauer Weststadt angeschlossen. Er ist rund zwei Jahre älter als Jan H., der am 17. August 1988 im Haus von Sektenanführerin Sylvia D. mit vier Jahren unter mysteriösen Umständen gestorben ist. Erstickt in einem Sack, in dem er auf Geheiß von D. eingeschnürt worden ist. Nun sitzt Jans Mutter Claudia H. unter Mordverdacht auf der Anklagebank (wir berichteten).
Johannes G. erinnert sich genau daran, dass er selbst in einen Schlafsack gepackt wurde. „Oft war die Kordel um den Hals sehr eng.“ Er habe sich wie eine „Ölsardine“ gefühlt, berichtet er dem Schwurgericht unter Vorsitz von Susanne Wetzel und erzählt ausführlich über seine Kindheit.
Zwischendurch greift er kurz zur Kaffeetasse, was sonst niemand im Zeugenstand tun würde. Denn G. spricht nicht im Verhandlungssaal, sondern von seinem eigenen Wohnzimmer aus mit der Kammer am Hanauer Landgericht. Weil er sonst eine sehr lange Anreise gehabt hätte, wird er über den Video-Messanger-Dienst Skype vernommen. Ein Novum am Schwurgericht. Die digitale Aussage über Bildschirme funktioniert zwischen Hanau und der niederländischen Nordseeküste einwandfrei.
Sektenanführerin D. sei eine „aggressive Persönlichkeit gewesen, so der 40-Jährige, der über verschimmeltes Gemüse, Essigwasser zum Trinken, Ohrfeigen, Gehirnwäsche und verbale Erniedrigungen berichtet. Er sei oft eingesperrt gewesen, Spielzeug, das ihm seine Großeltern schenken wollten, sei nicht bei ihm angekommen – es sei an die Kinder von Sylvia D. gegeben worden.
Zeuge: „Kordel extrem fest um den Hals geschnürt“
Dass es bereits vor dem Tod von Jan H. eine gefährliche Situation mit den Schlafsäcken gab, hat G. am eigenen Leib gespürt. „Das war der Tag, an dem die Kordel extrem fest um den Hals geschnürt war.“ Seine Erinnerung setzt erst wieder ein, als er im Krankenhaus liegt – mit schmerzhaften Strangulationsspuren am Hals.
Die Vorsitzende testet das Erinnerungsvermögen des 40-Jährigen und hakt nach, wieso er noch so viel über diesen Krankenhausaufenthalt wisse. „Ich habe dort von den Krankenschwestern Zitronenlimonade bekommen – zum ersten Mal in meinem Leben. Den Geschmack habe ich nie vergessen.“ Auch an die Salbe, mit der die Wunde versorgt wurde, erinnert er sich: „Das hat fürchterlich gebrannt und wehgetan.“ Ebenso hat er noch genügend Bilder im Kopf, als die Fragen zu Jan H. kommen.
Es sei ein Martyrium gewesen, der Junge habe „ständig auf dem Töpfchen“ gesessen. „Niemand sollte mit ihm spielen. Uns wurde suggeriert, dass er böse ist“, sagt G. und fügt hinzu: Er war ein sehr eingeschüchtertes Kind. Er hatte Angst – Jan war der Blitzableiter von Sylvia D.“ Bis zum August 1988. „Jan war dann auf einmal nicht mehr da, uns Kindern wurde gesagt, dass er an Essen erstickt sei.“
Flucht vor der Hanauer Sekte: „Habe meinen Kuschelhasen mitgenommen“
Das gleiche Schicksal blieb ihm erspart, denn seine Mutter zieht die Reißleine, verlässt die Gruppe. Zuvor war sie von Sektenanführerin D. verstoßen worden. Hals über Kopf flüchtet sie wenig später aus der Weststadt und beginnt ein neues Leben. „Eines Tages stand meine Mutter im Zimmer und sagte, ich solle nur das Nötigste einpacken. Ich habe meinen Kuschelhasen mitgenommen.“
Bleibt die Frage der Vorsitzenden Richterin, ob er heute noch unter den Erfahrungen aus seiner Kindheit leide. „Es hat lange gedauert“, sagt G., „aber die Spätschäden aus Hanau habe ich verarbeiten können.“ Nur eine Frage kann der 40-Jährige immer noch nicht beantworten: „Ich kann immer noch nicht begreifen, wie Menschen mit einer gewissen Intelligenz so was glauben können, was Sylvia D. ihnen erzählt hat.“
Landgericht Hanau: Verteidigung fordert Aufhebung des Haftbefehls
Ohne sichtbare Regung verfolgt die 61-jährige Claudia H. die Aussage von G. auf dem Bildschirm, obwohl es immer wieder um ihr Kind geht. Allerdings wird sie vom Zeugen G. nicht direkt belastet. „Da waren viele Erwachsene. Aber an sie habe ich keine konkrete Erinnerung“, sagt er aus. Unterdessen versuchen die beiden Verteidiger von H. erneut, dass ihre Mandantin aus der Untersuchungshaft entlassen wird und haben dazu am Donnerstag einen Antrag an die Kammer gestellt. H. sitzt seit ihrer Festnahme im September 2020 hinter Gittern. Der Prozess wird fortgesetzt. (Von Thorsten Becker)