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Betreuung im Freigerichtviertel: Diese Auswirkungen hat die Corona-Pandemie auf die Kinder

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Von: Yvonne Backhaus-Arnold

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Unterricht in Corona-Zeiten: Magdalena Linne, Konrektorin der Anne-Frank-Schule, und ihre Kollegen versuchen, für die Schülerinnen und Schüler ein Stück Normalität herzustellen, indem die eine Hälfte der Klasse zur ersten und zweiten Stunde kommt, die andere zur dritten und vierten. Hier der Blick in eine vierte Klasse am Donnerstagmorgen.
Unterricht in Corona-Zeiten: Magdalena Linne, Konrektorin der Anne-Frank-Schule, und ihre Kollegen versuchen, für die Schülerinnen und Schüler ein Stück Normalität herzustellen, indem die eine Hälfte der Klasse zur ersten und zweiten Stunde kommt, die andere zur dritten und vierten. Hier der Blick in eine vierte Klasse am Donnerstagmorgen. © patrick scheiber

Was macht Corona eigentlich mit Kindern, die es schwieriger haben als andere? Bei denen morgens niemand Frühstück macht oder ins Zimmer schaut, um bei Homeschooling und Hausaufgaben zu helfen?

Hanau – Christine Fuchs kann diese Fragen ziemlich genau beantworten. Die Hanauerin leitet das „MiTTENDRiN“, eine Betreuungseinrichtung der Kathinka-Platzhoff-Stiftung, die ihre Räume unweit der Leipziger Straße hat, gegenüber die Moschee, nebenan ein Wettbüro.

Seit 1. März haben sie wieder geöffnet. Normalerweise werden im „Mittendrin“ 18 Kinder von vier Mitarbeitern betreut, aktuell sind es elf Kinder. Sie kommen nicht wie sonst zum Mittagessen und für die Hausaufgaben, sondern aufgrund des Wechselunterrichts teilweise schon um kurz nach 9 Uhr. Die Jungen und Mädchen sind zwischen sechs und zwölf Jahre alt. Sie gehen auf die Anne-Frank-, die Brüder-Grimm-, die Elisabeth-Schmitz-Schule und das Schulzentrum Hessen-Homburg.

Die Unterrichtsmodelle sind überall anders, was die Schüler eint, sind die Veränderungen, die das letzte Jahr bei ihnen ausgelöst hat. „Seit Corona können sie sich nur sehr schwer an Regeln halten“, sagt Fuchs. Ihre Kollegin Anne Methner ergänzt: „Sie haben viel weniger Konzentration als früher, können kaum still sitzen.“

Viele Kinder sind alleine zu Hause

Die Geschichten, die Fuchs und Methner erzählen, sind traurig und schockierend gleichermaßen. Suizidäußerungen gab es schon, auch Meldungen ans Jugendamt wegen Kindeswohlgefährdung. Das seien, ergänzt Wolfgang Zöller, Geschäftsführer der Stiftung, immer Gratwanderungen. „Wir haben zwei Brüder hier, acht und zwölf Jahre alt, die jeden Morgen alleine zu Hause sind, weil die Eltern arbeiten. Da ist keiner da, der sie weckt“, erzählt Christine Fuchs. Schule haben sie normalerweise im tageweisen Wechsel. Häufig gehen sie gar nicht, manchmal verschlafen sie, kommen dann erst um 11.30 Uhr ins „Mittendrin“.

Katja Wecker kann Erzählungen wie diese unterstreichen. Seit 2012 ist sie Teil des Leitungsteams, seit 2018 Direktorin der Anne-Frank-Schule im Hanauer Freigerichtviertel. Ihre Schule kooperiert mit dem „MiTTENDRiN“, das hier drei Schulbegleiter im Einsatz hat. Strukturlos seien viele Kinder, manche kaum am Platz zu halten, erzählt Wecker. Viele fordern Aufmerksamkeit, andere suchen Nähe, einige haben stark zugenommen.

Grundschule gibt Kindern ein gewisse Struktur

320 Jungen und Mädchen besuchen die Grundschule. 26 Nationen lernen hier zusammen. 97 Prozent der Schüler haben einen Migrationshintergrund. Um ein Stück Normalität herzustellen, hat sich die Schule entschieden, alle Schüler jeden Tag kommen zu lassen. Die Klassen sind dafür geteilt worden. Gruppe 1 kommt in der ersten und zweiten Stunde, Gruppe 2 in der dritten und vierten. „Das gibt den Jungen und Mädchen wenigstens ein bisschen Struktur“, so Wecker.

Arbeiten gemeinsam für die Kinder aus dem Freigerichtviertel: Anne Methner und Christine Fuchs vom „MiTTENDRiN“, Wolfgang Zöller, Geschäftsführer der Kathinka-Platzhoff-Siftung und Katja Wecker, Direktorin der Anne-Frank-Schule im Gespräch mit HA-Redakteurin Yvonne Backhaus-Arnold (von links).
Arbeiten gemeinsam für die Kinder aus dem Freigerichtviertel: Anne Methner und Christine Fuchs vom „MiTTENDRiN“, Wolfgang Zöller, Geschäftsführer der Kathinka-Platzhoff-Siftung und Katja Wecker, Direktorin der Anne-Frank-Schule im Gespräch mit HA-Redakteurin Yvonne Backhaus-Arnold (von links). © -

Sie beobachtet mit Sorge, wie viele ihrer Schüler kein Deutsch mehr können, es verlernt haben im Lockdown. 110 neue Kinder sollen im August eingeschult werden. „Die Hälfte davon“, sagt Wecker, „spricht kein Deutsch. Ich habe einen Jungen bei der Anmeldung nach seinem Alter gefragt, er hat mir seinen Namen genannt.“

Sprachprobleme erschweren das Homeschooling

Neben türkischen Familien seien in den vergangenen Monaten auch viele bulgarische Familien in den Stadtteil gezogen. Die sprechen eher Türkisch denn Deutsch, so Fuchs und Wecker. „Man braucht hier keine Silbe Deutsch. Manche leben seit 30 Jahren im Stadtteil, ohne ein Wort zu können“, erzählt die Grundschuldirektorin. Die Arbeit, auch mit den Eltern ihrer Schüler, hat das deutlich erschwert. Wie soll Homeschooling gehen, wenn die Eltern sich weigern, Deutsch zu lernen, fragt Wecker. Und Fuchs ergänzt: „Manche unserer Kinder, die von ihrer Schule ein Leih-Tablet bekommen haben, haben die Sprache direkt auf Türkisch umgestellt.“

Viele Eltern seien überhaupt nicht in der Lage, ihre Kinder zu unterstützen, in ihre Zukunft zu investieren - und die Sprache spiele dabei natürlich eine wesentliche Rolle. Kann man das, was verloren gegangen ist, in den vergangenen Monaten, aufholen? Katja Wecker überlegt. „In Teilen vielleicht, aber das Zwischenmenschliche sicher nicht.“

Sprachkenntnisse der Kinder verschlechtern sich

Im „MiTTENDRiN“ decken sie um kurz nach 9 den Frühstückstisch. Weil viele kein Pausenbrot mitbekommen, habe sie das hier eingeführt. Danach werden Hausaufgaben am langen Tisch gemacht, dort, wo an diesem Spätnachmittag das Gespräch mit unserer Zeitung stattfindet. Im Nebenraum gibt es für ein, zwei Kinder die Möglichkeit, am jeweiligen Online-Unterricht teilzunehmen. „Das Schulische“, sagt Anne Methner, „hat noch nie so viel Platz eingenommen wie aktuell.“ Nachdem die Einrichtung von November bis März geschlossen war, hat auch sie eine deutliche sprachliche Verschlechterung ihrer Schützlinge festgestellt.

„Kein Wunder“, sagt Katja Wecker, „viele Kinder sitzen in ihrer kleinen Blase, mit Fernsehen, Computer und Handy, ohne Garten oder Balkon, manchmal mit sechs, sieben Geschwistern in einer Vier-Zimmer-Wohnung.“ Wecker hat den Eltern ihrer Schüler Gespräche angeboten, abends und online. Zehn Familien haben das Angebot angenommen. „Immerhin“, sagt die Direktorin und lacht. Die Eltern wünschen sich von der Schule in erster Linie Wiederholungen und Vertiefungen des Unterrichtsstoffs.

Corona verstärkt die Probleme im Freigerichtviertel

Fuchs hofft auf mehr Angebote im Stadtteil, um das soziale Ungleichgewicht, das sich verstärkt habe, aufzufangen. Wecker wünscht sich mehr Kommunikation mit Stadt und Schulamt, auch darüber, ob es wirklich sinnvoll ist, Kinder mitzuziehen und die Klasse nicht wiederholen zu lassen, nur weil Corona ist. Zöller fordert eine kritische, eine ehrliche Analyse von der Stadt Hanau. „Die Erkenntnisse zum Freigerichtviertel gibt es seit Jahren, Corona hat das alles nur verstärkt“, ist er sich sicher.

Und die Kinder, was wünschen die sich? Katja Wecker lacht. „In unserer Kinderkonferenz haben sie gesagt: ‚Wir wollen kein Corona mehr. Wir wollen wieder miteinander spielen.’“

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