Brüder-Grimm-Festspiele: Fulminante Musical-Uraufführung von „Das tapfere Schneiderlein“

Hanau – Gleich zu Beginn ist ganz schön was los auf der Festspielbühne. Da wuseln bunt bekleidete Schauspieler lautstark singend wild durcheinander und befördern das Publikum mitten hinein ins Musicalfeeling. Schmissig, gefällig und groovy, wenn auch ein wenig verwirrend, ob der nötigen Zuordnung dieser unbekannten Gesellen, die sich da ein Stelldichein geben.
Doch dann knüpft das Musical ans altbekannte Märchen an: Der Schneider (Dennis Hupka) näht und hadert mit sich und seinem Gleichmut, die Prinzessin (Dorothea Maria Müller) rührt im Suppentopf und will keinen x-beliebigen Helden heiraten. Dass sie von Kraftproben, wie sie der König für seinen künftigen Schwiegersohn vorgesehen hat, so gar nichts hält, besingt sie temperamentvoll und stimmgewaltig.
Doch was hilft es? Nach dem Hof-Protokoll hat sie einen tapferen Helden zu heiraten. Nur muss der erst einmal gefunden werden. Wie uns allen bekannt ist, kommen Schneiderlein und Thron-Nachfolgerin am Ende zusammen. Bis das soweit ist, spicken Songtexte, Komposition und Regie das Musical mit allerhand Futter, um dem ansonsten schnell erzählten Märchen genügend Stoff zu bieten.
Da gibt es etwa den Vogel Hans, ein blaues Plüschtier, das man als kitschig erachten mag, allerdings wird hier ein Märchen gezeigt; Kitsch ist demnach erlaubt. Hans, dem Johanna Haas physisch wie akustisch Leben einhaucht, spielt im Stück eine tragende Rolle: Ohne den Vogel würde aus dem Schneider kein vermeintlicher Held.
Doch zunächst gilt es für den Mann mit der Nadel die bekannten Sieben auf einen Streich zu erlegen. Diese lässt Kostümbildnerin Ulla Röhrs in einer Glanzleistung auf der oberen Bühnenebene erscheinen. Sieben Schauspieler lassen in ihren Händen gigantische Riesenaugen schwirren und tanzen und letztlich, als auf der unteren Ebene der Bühne des Scheiders flache Hand aufs Musbrot haut, zu Boden fallen.
Zeit für den Beginn eines abwechslungsreichen Schneiderlein-Roadtrips, der stets punkt- und tongenau vom Live-Orchester – vier Musikern, links und rechts im oberen Teil der zweigeschossigen Bühne platziert, halb verborgen hinter dem mystischen Bühnenwald und Plexiglas – begleitet wird.
Ein innerer Monolog, mit großer Stimmgewalt und Spielfreude nach außen gekehrt, macht des Schneiders Zwiespalt deutlich: zu weich, zu milde, zu friedlich und harmoniebedürftig schätzt er sich ein. Und die daraus folgende Erkenntnis: „Aber so kommt man niemals empor!“

Deshalb, und das schmettert Hupka voller Inbrunst: „Ist es nicht Zeit, mal was zu wagen und endlich auf den Tisch zu schlagen?“ Zunehmende Entschlossenheit, gesteigertes musikalisches Tempo, sich entwickelnde Bühnenpräsenz – der neue Schneider ist geboren und bereit für die anstehenden Heldentaten. Schließlich gilt es, einer Erwartungshaltung zu entsprechen. Auch wenn das nur mit Tricks und Mogelei möglich ist.
Also muss ein Boogie Woogie tanzender Riese (wie um alles in der Welt kann sich Till Bleckwedel mit diesen Monsterfüßen so geschmeidig bewegen? Hier geht ein großes Lob an die kreativen Puppenbauer), locker doppelt so groß wie der Schneider, überlistet werden. Und eine verrückte Wildsau gilt es zu zähmen – eines der musikalischen Highlights des Stücks. Kira Primke im Schweinskostüm verzaubert im tanzenden Maisfeld mit Stimme und sexy Performance. Beim zugehörigen Song, der sich vom Blues über Soul bis zum Rock "n’ Roll erstreckt, holt der Pianist alles aus sich und seinem Instrument heraus. Zu guter Letzt soll der Schneider dem magischen Einhorn den Garaus machen. Die Szene erinnert an experimentelles Theater: sakrale Sprechgesänge, eine sich aus verschiedenen Elementen zusammensetzende Einhornfigur, mystisches Licht.
Nicht unerwähnt bleiben darf die wunderbare Barbara Bach, der man auch in diesem Jahr so gerne zusieht. Ihr Solo „Schaut genauer hin!“ bekommt dann auch den verdienten Szenenapplaus, nicht zuletzt aufgrund des einmal mehr durchdachten, bisweilen tiefgründigen Liedtexts (Daniel Große Boymann zeichnet hierfür verantwortlich).
Für Publikumspreis abstimmen
Wählen Sie Ihren Lieblingsschauspieler der diesjährigen Festspielsaison. Sie können bis zum 23. August, 18 Uhr, für den Publikumspreis, vergeben vom HA und den Festspielen, abstimmen. Hier geht‘s zur Abstimmung.
Natürlich gibt es auch im Schneiderlein den nötigen Antagonisten, in diesem Fall ebenfalls Anwärter auf die Hand der Prinzessin. Der Baron (Kevin Arand gefällt in der Rolle des schmierig geleckten, aber letztlich doch sympathischen Thronanwärters, nicht zuletzt durch seinen gefälligen Gesang) will das Herz der Hübschen erobern, wenn auch vorrangig angetrieben von seinem intriganten Vater (Steffen Laube überzeugt als Minister). Doch am Ende, wir sind schließlich im Märchen, wird natürlich alles gut und der Schneider lernt, nicht jeder Erwartungshaltung entsprechen zu müssen und sich dafür von seinen Werten und wahrem Wesen abzukehren.
Das Musical vom tapferen Schneiderlein besticht mit szenischer Vielfalt, musikalischer Abwechslung, fernab des bekannten Musical-Geträllers. Ein ausgeklügeltes Bühnenbild, ausgefallene Requisite und Kostüme, hervorragende Musicaldarsteller und eine Geschichte, die in Zeiten von Selbstoptimierungswahn und dem, durch die sozialen Medien angeschürten Streben nach Zuspruch, kaum aktueller sein könnte. Einziges Manko: Die Liedtexte sind auch in diesem Jahr nicht immer verständlich und werden – wie aus der Vergangenheit bekannt – Opfer der ausbaufähigen Akustik im Amphitheater.