„Das zerreißt einem das Herz“

Während des Telefonats stockt Mustafa Kaynak immer wieder die Stimme. Weil er so schrecklich nah daran ist. Weil das alles für ihn „unbeschreiblich ist“. Weil er fast permanent im Fernsehen die Nachrichten aus dem Erdbebengebiet in Südostanatolien verfolgt. Schließlich hat er Verwandtschaft in Kahramanmaras, einem der Epizentren des verheerenden Bebens in der Türkei.
„Jeder Blick darauf tut mir weh“, sagt Kaynak, der das Büro des Hanauer Ausländerbeirats leitet. Dann erzählt er von seiner Cousine, deren Mann und ihrem Sohn. Als das heftige Beben begann und die Wände wackelten, versuchten die drei, durchs Treppenhaus ihres einstürzenden Hauses ins Freie zu gelangen. Nur der Sohn hat es geschafft.
Es sind Schicksale wie diese, die es zu Tausenden in der vom Beben geschundenen Region in der Türkei und in Syrien gibt. Tausende Menschen wurden verschüttet, starben unter den Trümmern. Auch in Hanau, der Stadt, in der Menschen aus 50 Nationen und viele mit türkischen Wurzeln leben, haben einige Familien verwandtschaftliche Bande in die Krisenregion. So wie Mustafa Kaynak. Die Enkelin seines Onkels wird seit dem Beben vermisst. „Die Ungewissheit zerreißt einem das Herz“, sagt er.
Viele Hilfsinitiativen gestartet
Unterdessen wurden auch in der Brüder-Grimm-Stadt und im Main-Kinzig-Kreis Hilfsinitiativen gestartet. Etwa vom Fußball-Gruppenligisten Türk Güçü Hanau. Der Verein rief über soziale Netzwerke sofort zu Sachspenden auf. Dem seien viele Bürger aus Hanau, aber auch aus Offenbach, Aschaffenburg oder Darmstadt gefolgt, berichtet Hüsamettin Darici, Pressesprecher von Türk Güçü. Hilfspakete wurden über Nacht von fast 200 Helfern in Kartons verpackt und in neun Lastwagen geladen. Bereits gestern früh gingen sie mit einer Maschine der Turkish Airlines in die Türkei.
Auch in der Moschee der DITIB-Gemeinde in Erlensee stapelten sich gestern Nachmittag die Kisten mit Hilfsgütern bis zur Decke. Es sind Hunderte. „Wir haben gar nicht mehr gezählt“, sagte Vorstandsmitglied Eyüp Oymak, während draußen immer mehr Fahrzeuge entladen wurden. „Kleidung, Decken, Mützen, Schals, fast alles Neuware“, sagt Oymak. Ein Spediteur, Mitglied der rund 200-köpfigen Gemeinde, wird die Hilfsgüter in die Türkei fahren. Sachspenden sollen jetzt nicht mehr gebracht werden. „Geld ist jetzt wichtiger“, sagt Oymak, der überwältigt ist von der Hilfsbereitschaft.
Zwei Zwölf-Tonner am Start
Auch Privatleute wie Burak Kar engagieren sich. Der 30-Jährige will einen Konvoi auf den Weg bringen, hat im Internet um Hilfsgüter gebeten. „Das, was wir am besten machen können, ist schnelle Hilfe zu leisten: Decken, Klamotten, Baby-Sachen zu sammeln, in Kartons verpackt.“ Über einen Freund, der ein Transport-Unternehmen betreibt, hat Kar zunächst einen Laster organisiert, einen 24-Tonner. Gestern Vormittag stapelten sich schon so viele Spenden, dass Kar gleich noch mal nachlegte: „Die Leute kommen und kommen. Wir haben jetzt zusätzlich noch zwei Zwölf-Tonner am Start, die beladen werden.“ In der Türkei soll die Ladung dann von der dortigen Katastrophenschutzbehörde AFAD entgegengenommen werden. Eine Hürde für solche Hilfskonvois: Auf die Schnelle muss der Transport mit den Zollbehörden abgeklärt werden.
Mustafa Kaynak vom Hanauer Ausländerbeirat meint, dass Hilfsgüter vor allem auf dem Luftweg ins Erdbebengebiet gebracht werden sollten. Allein, weil die Zeit drängt. In der Region Kahramanmaras, etwa 100 Kilometer nördlich der syrischen Grenze und 150 Kilometer von der Stadt Adana entfernt, hat es geschneit. Es ist bitterkalt. Nachts herrschen Minusgrade.
„Viele Menschen übernachten bei der Kälte in Autos“, hat Kaynak von Verwandten erfahren. „Aber das Benzin wird knapp.“ Das bisschen Wärme durch den Automotor droht zu erkalten. Es sind erschütternde Nachrichten, die Mustafa Kaynak und viele andere Menschen in Hanau erreichen. „Meistens über WhatsApp“, sagt er. Oft dauere es aber Stunden, ehe eine Antwort kommt. Die Kommunikationsnetze sind überlastet.
Oberbürgermeister Claus Kaminsky bestürzt
Auch „Helping Hands“, ein Gelnhäuser Verein für Entwicklungszusammenarbeit, engagiert sich in der Erdbebenregion, unterstützt eine Schule mit 340 Kindern im benachbarten Libanon. „Das Beben war dort zu spüren“, berichtet Dorothea Gschwandtner, Internationale Leiterin von „Helping Hands“, die derzeit in Beirut ist, auch wenn es im Libanon viel weniger Zerstörung gegeben hat als etwa in der Türkei und in Syrien. Aber die Kinder in Beirut, die seit der Explosion vor zwei Jahren viel durchgemacht haben, hätten große Angst.
Mit großer Bestürzung hat auch Hanaus Oberbürgermeister Claus Kaminsky auf die Nachrichten und Bilder aus dem Erdbebengebiet an der türkisch-syrischen Grenze reagiert. „Meine Anteilnahme gilt den Opfern und ihren Familien in der betroffenen Region, aber auch all den Hanauerinnen und Hanauern, die mit großer Furcht auf Nachrichten von Familienangehörigen und Freunden warten, die in dem Gebiet leben.“ Die übermittelten Nachrichten zeigten „ein entsetzliches Bild des Leids und der Zerstörung“, so Kaminsky. Die Zahl der Opfer stieg auch gestern stündlich.
„Das Ausmaß der Schäden, gepaart mit den widrigen Witterungsbedingungen, ist erschreckend. Es ist für die hier lebenden Mitbürgerinnen und Mitbürger sicher nur schwer auszuhalten, nicht zu wissen, wie es ihren Familienmitgliedern vor Ort geht.“
Viele haben alles verloren

Es gibt aber auch Fälle von Familien, die beispielsweise Eltern aus dem Erdbebengebiet ins sichere Hanau holen wollen, sagt Mustafa Kaynak vom Ausländerbeirat. Menschen, die alles verloren und die keine Bleibe mehr haben. Doch nach Deutschland zu reisen sei allein wegen der Visumsbestimmungen praktisch unmöglich. Kaynak appelliert an die zuständigen Stellen, entsprechende Kurzzeit-Visa zu erteilen.
Vom städtischen Pressedienst wurde gestern berichtet, dass im Rathaus immer wieder Anfragen eingehen, ob und wo es ein Spendenkonto zur Unterstützung der Erdbebenopfer gibt. „Die Welle der Hilfsbereitschaft ist wieder groß“, sagt Kaminsky. Er schließt sich dem Aufruf von „Bündnis Entwicklung Hilft“ (BEH) und „Aktion Deutschland Hilft“ (ADH) an, die gemeinsam ein Spendenkonto eingerichtet haben.
Spendenkonto
BEH und ADH, IBAN DE53 200 400 600 200 400 600, Stichwort: ARD/Erdbeben Türkei und Syrien. Weitere Infos auf spendenkonto-nothilfe.de