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Hanauer Sektenprozess: „Eltern ungewöhnlich gefasst“

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Von: Yvonne Backhaus-Arnold

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Was hat der Notarzt am 17. August 1988 gesehen? Eine Frage von vielen, die gestern vor dem Landgericht in Hanau gestellt wurden. Archivfoto: Becker
Was hat der Notarzt am 17. August 1988 gesehen? Eine Frage von vielen, die gestern vor dem Landgericht in Hanau gestellt wurden. Archivfoto: Becker © -

Hanau – Fast auf den Tag genau vor zwei Jahren war der Arzt schon einmal als Zeuge geladen, um im Prozess gegen Sylvia D. auszusagen. Die mutmaßliche Sektenanführerin ist mittlerweile wegen Mordes verurteilt, hat aber Revision beim Bundesgerichtshof eingelegt. Nun steht Claudia H. vor Gericht. Die 60-Jährige soll vor 33 Jahren an der vorsätzlichen Tötung ihres Sohns Jan beteiligt gewesen sein.

Der Vierjährige war am 17. August 1988 im Haus der D.s ums Leben gekommen – erstickt an Erbrochenem in einem zugeschnürten Leinensack, wie das Landgericht Hanau im September 2020 festgestellt hatte.

Dem Arzt ist es sichtlich unangenehm, heute schon wieder als Zeuge gehört zu werden. „Ich kann Ihnen das leider nicht ersparen, weil es sich hier um eine neue Hauptverhandlung mit anderen Beteiligten handelt“, erklärt die Vorsitzende Richterin Susanne Wetzel an den Arzt gewandt.

Der heute 65-Jährige war ab Ende 1988 Assistenzarzt am damaligen Stadtkrankenhaus. Es sei üblich gewesen, auch Notarztwagen zu fahren. Sechs Wochen lang sei er mit einem erfahrenen Arzt unterwegs gewesen, am 17. August 1988 das erste Mal alleine. Deshalb, und auch, weil es in sechs Jahren Notarztdienst die einzige Reanimation eines Kindes gewesen sei, erinnere er sich an den Fall – wenn auch bruchstückhaft.

„Todesart nicht aufgeklärt“

Der Junge habe auf einem Bett gelegen, sei nicht bei Bewusstsein gewesen. „Wir haben ihn von der weichen auf eine harte Unterlage gelegt, um die Reanimation durchführen zu können. 30, vielleicht sogar 45 Minuten haben wir versucht, den Jungen wiederzubeleben – leider ohne Erfolg.“ Die anwesenden Erwachsenen habe man vorher in einen Nebenraum geschickt. An deren Anzahl oder Alter und an die Kleidung des Jungen kann der Notarzt sich nicht erinnern. „Erbrechen und anschließende Erstickung mit Herz-Kreislaufstillstand“ vermerkt er auf dem Leichenschauschein, den die Kammer an diesem Tag – wie beim Prozess vor zwei Jahren – genau unter die Lupe nimmt. Der Mediziner kreuzt an: „Todesart nicht aufgeklärt.“ Warum die Polizei vor Ort ist, wer sie alarmiert hat, kann das Gericht nicht klären, auch der Notarzt kann sich nicht an die beiden Polizisten erinnern. Aber sie sind da. Der Beamte, der mit seinem Kollegen zum Haus gerufen worden war und im Prozess vor zwei Jahren als Zeuge ausgesagt hatte, erklärte seinerzeit, dass er sich an eine Frau erinnere und daran, dass der kleine Junge leblos auf der Couch gelegen habe. Der Notarzt habe den Beamten erklärt, dass der Junge an Erbrochenem erstickt sei.

Im Befundbericht, den der Polizist noch am selben Tag verfasste, heißt es: „Die Leiche wurde im Kinderzimmer der 17-jährigen Tochter der Familie D. gefunden. Auf der am Boden liegenden Matratze, welche bezogen war, wurde Erbrochenes (vermutlich Haferschleim) gefunden. Ebenfalls befand sich neben dieser Matratze ein bunter Schlafsack, der voll mit Erbrochenem war (Haferschleim). Ermittlungen ergaben, dass das Kind mittags Haferflocken gegessen hatte.“

Der Notarzt, der an diesem Herbst-Dienstag 2021 dazu befragt wird, kann sich weder an eine Matratze oder einen bunten Schlafsack noch an ein Gespräch mit Polizeibeamten erinnern. Woran er sich aber erinnert, ist die Reaktion der Eltern. Als „ungewöhnlich gefasst“ und „wenig emotional“ beschreibt er diese. Es sei ein Stimmungsbild, das haften geblieben sei.

Getrennte Leichenschau oftmals nicht durchgeführt

Professor Marcel Verhoff, der Chef des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Frankfurt und Sachverständiger im Verfahren, will wissen, ob die Leichenschau getrennt durchgeführt worden sei, als „eigener Akt“, wie er sagt. „Das haben wir nicht gemacht“, räumt der Mediziner ein. Verhoff nickt: „Das war damals schon vorgeschrieben, wurde aber häufig genug nicht gemacht.“

Und so ist auch die Angabe des Notarztes, dass es keine äußerlichen Verletzungen gab, auch 33 Jahre später haltlos, denn weder der komplett entkleidete Körper des Jungen noch besondere Körperstellen wurden in einer Leichenschau begutachtet. „Sie können also keine Verletzungen gesehen haben“, so Verhoff. Der Tod des kleinen Jan wurde relativ schnell zu den Akten gelegt.

Als Susanne Wetzel den Notarzt nach mehr als einer Stunde Vernehmung verabschiedet, erklärt sie: „Ich kann es Ihnen nicht versprechen, aber ich habe die große Hoffnung, dass Sie heute hier das letzte Mal dazu aussagen mussten.“ (Yvonne Backhaus-Arnold)

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